Krankenpflege im Husch-Husch-Verfahren

Bundesweit fehlen circa 60.000 Pflegekräfte in den Krankenhäusern, doch einen „Pflegenotstand“ diagnostiziert lediglich das völlig überlastete Personal Zahl der Patienten steigt kontinuierlich / Pflege beschränkt sich auf das Notwendigste: „Keine fünf Minuten Zeit zum Reden!“ / Streiks als „ultima ratio“  ■  Von Marion Scherpf

Frankfurt (taz)- „Jeder weiß, daß sehr viel dazu gehört, uns auf die Straße zu bringen. Jetzt ist es soweit.“ Vera Henrici, Krankenschwester am Frankfurter Uni-Klinikum, spricht auf der Abschlußkundgebung einer Demo, an der etwa 600 KollegInnen aus Frankfurt und anderen hessischen Städten teilgenommen haben. Was die Schwestern und Pfleger, nach eigener Aussage sonst eher „stille Dulder und Schaffer“, dazu gebracht hat, nach sieben Stunden anstrengendem Frühdienst zum Protestmarsch durch die Frankfurter Innenstadt anzutreten, ist die schlichte Erkenntnis, daß sich ohne ihr Engagement nichts ändern wird am „Pflegenotstand“. Denn seit mindestens fünf Jahren warnen die Klinikangestellten davor, daß zu wenig Personal eingestellt wird - umsonst.

60.000 Krankenschwestern und -pfleger fehlen derzeit in bundesdeutschen Hospitälern, schätzt Elke Kuhlwilm von der DAG. Allein in Hessen, so die Zwischenbilanz einer Untersuchung der dortigen Krankenhausgesellschaft, können fast 1.000 Stellen im Pflegebereich nicht besetzt werden, weil sie im Budget der Krankenkassen nicht vorgesehen sind. Und wenn die von der Gewerkschaft ausgehandelte Arbeitszeitverkürzung umgesetzt werden soll, müssen nach Berechnung der ÖTV bis 1990 noch circa 1.000 Stellen zusätzlich geschaffen werden. Dabei wären die meisten Krankenschwestern schon froh, wenn sie nicht dauernd Überstunden machen müßten, um den chronischen Pflegekräftemangel zu überbrücken. Auf fünf bis 19 Überstunden kommen zwei Drittel der Schwestern und Pfleger jeden Monat.

Der Beruf ist so unattraktiv geworden, daß viele Krankenpflegeschulen, die noch vor Jahren lange Wartelisten geführt haben, ihre Klassen nicht mehr vollkriegen. Körperlich und psychisch belastende Arbeit, miese Bezahlung

-2.400 Mark brutto verdienen examinierte KrankenpflegerInnen, kaum Aufstiegsmöglichkeiten, Wochenend und Nachtdienste und oft eine Sechs-Tage-Woche schrecken die Berufsanfänger ab. Und auch viele ausgebildete Schwestern und Pfleger bleiben aufgrund der Arbeitsbedingungen nicht allzu lang im Beruf - im Durchschnitt vier bis sechs Jahre. Reihenweise müssen deshalb Betten abgebaut oder gar ganze Stationen „geschlossen“ werden. „Von 73 Betten auf der Station Hals-Nasen-Ohren mußten 30 dichtgemacht werden, weil kein Pflegepersonal vorhanden ist“, berichtet Willi Lang, Personalratsvorsitzender des Frankfurter Uni-Klinikums. „Operiert wird trotzdem, wie wenn eine Gala-Besetzung bereitstünde.“

Die Pflegemisere hat erschreckende Konsequenzen: So mußte auf der Frühgeborenen-Station des Frankfurter Uni-Klinikums bis Mitte Dezember nachts eine einzige Schwester die Arbeit machen, die sich tagsüber vier bis fünf Kolleginnen teilten. Die Frühgeborenen müssen alle zwei Stunden gefüttert werden. Wenn ein Kind die ganze Aufmerksamkeit der Nachtschwester beanspruchte, blieb als einzige Möglichkeit die Magensonde, um die anderen Babies mit Nahrung zu versorgen.

„Sie fangen um 20 Uhr ihren Dienst an und rennen dann zehn Stunden von einem Säugling zum nächsten“, schildert Vera Henrici so eine Nacht. „Es kommt kaum vor, daß Sie ein Baby in Ruhe füttern können, meistens müssen Sie zwischendurch zu einem anderen Kind hetzen, weil dort ein Atem- oder Herzmonitor Alarm schlägt.“

Erst nach massiven Protesten der Eltern bewilligte der Verwaltungsdirektor der Station eine zusätzliche „Sondernachtwache“.

Auf anderen Stationen kann es vorkommen, daß eine Patientin nachts mit Schmerzen aufwacht und drei Stunden lang umsonst nach der Schwester klingelt, weil diese sich pausenlos um einen akut Lebensgefährdeten kümmern muß.

„Es wird zwar kein Patient wegen Pflegepersonalmangel sterben“, sagt Vera Henrici, „denn für Notfälle gibt es immer noch irgendwo Kapazitäten. Aber alles andere bleibt auf der Strecke.“ Zeit, ihre verantwortungsvolle Arbeit und den täglichen Umgang mit Krankheit und Tod zu überdenken, Zeit für Gespräche: davon können die PflegerInnen nur träumen. „Das ist das Unbefriedigendste“, resümiert eine junge Schwester, „daß du die Patienten so abwürgen mußt. Nie bleiben dir auch nur fünf Minuten zum Reden. Kaum hast du einen Patienten versorgt, klingeln schon wieder drei andere.“

Die Zahl der Kranken, die durch bundesdeutsche Hospitäler geschleust werden, steigt. Alle vier Jahre müssen nach Angaben der ÖTV etwa eine Million Menschen mehr in Krankenhäusern versorgt werden. Jede „Aufnahme“ und jede „Entlassung“ macht dem Pflegepersonal zusätzliche Arbeit: Bettzeug wechseln, Schränke desinfizieren, Papierkrieg...

Immer mehr neue Aufgaben bescheren den Schwestern und Pflegern auch die modernen Operationsmethoden, die ständig verfeinerten Techniken und die Apparatemedizin für aufwendige Diagnostik und Therapie. All das bleibt unberücksichtigt bei der Berechnung der Stellenzahlen für die Kliniken. Denn sie erfolgt starr nach einer 20 Jahre alten Formel, genannt „Personalanhaltszahlen“. 101 Minuten, so schreibt dieser Stellenschlüssel vor, braucht eine Krankenschwester täglich pro PatientIn - eingeschlossen Tätigkeiten, die nicht in den pflegerischen Bereich fallen. Zudem gehen die Krankenhausgesellschaften davon aus, daß drei bis neun KrankenpflegeschülerInnen - das ist je nach Bundesland verschieden! - die Arbeit einer examinierten Schwester ersetzen, und bewilligen dementsprechend weniger Planstellen.

Darunter leidet natürlich auch die Ausbildung. „Niemand hatte Zeit, mir was beizubringen“, berichtet eine junge Schwester. „Wir Azubis mußten vom ersten Tag an voll ranklotzen: Essen ausgeben, waschen, aufs Klo setzen, Temperatur und Blutdruck messen. Anspruchsvollere Arbeiten, Verband wechseln zum Beispiel, mußten wir einfach ausprobieren. Wenn's falsch war, haben wir nachher halt eins auf den Deckel gekriegt.“

Jahrzehntelang haben die KrankenpflegerInnen den Mangel verwaltet, ohne aufzumucken. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad des Pflegepersonals ist extrem niedrig zehn Prozent bundesweit, schätzt eine Frankfurter Schwester, selbst ÖTV-Mitglied. Jetzt aber beginnen sich die Krankenschwestern und Pfleger zu wehren. In München gingen im November zehntausend von ihnen auf die Straße. „In Zukunft könnt ihr euren Mist allein machen“, verkündeten sie auf ihren Transparenten. Als „ultima ratio“ schließen inzwischen viele Beschäftigte im Gesundheitswesen den Streik nicht mehr aus. Auf ein erfolgreiches Beispiel können sie schon verweisen. 72 Tage lang streikten die Angestellten eines nordrhein-westfälischen Reha-Zentrums, weil sie nicht mehr nach den Bedingungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes arbeiten wollten. Dort ist die 48 -Stunden-Woche vorgesehen. Das Reha-Zentrum ist jetzt der ÖTV angeschlossen, das bedeutet eine 40-Stunden-Woche, ab April dieses Jahres 39 Stunden.

Die ÖTV fordert die Arbeitgeber von Bund, Ländern und Gemeinden zu Tarifverhandlungen auf. Zwar sind die Gehälter per Tarifvertrag bis Ende 1990 festgeschrieben, doch hoffen die Gewerkschafter, durch eine Änderung der Eingruppierung bessere Bezahlungen für das Pflegepersonal aushandeln zu können.

Neben den finanziellen Forderungen setzt sich die ÖTV auch für qualitative Verbesserungen ein, beispielsweise familienfreundlichere Dienstpläne und Teilzeitarbeitsmöglichkeiten. „Wir müssen weg von unterwürfigen, dienenden, befehlsausführenden Image des Krankenpflegeberufs“, sagt Hilde Steppe vom Frankfurter Berufsbildungswerk des DGB. Daß die PflegerInnen mehr gesetzlich verankerte Kompetenzen bekommen, fordern auch die Grünen im hessischen Landtag. Eine solche Änderung des Krankenpflegegesetzes bedeutete für die Praxis zum Teil lediglich eine Legalisierung des status quo. Denn jetzt schon müssen PflegerInnen täglich zum Beispiel Aufgaben übernehmen, die eigentlich in den Kompetenzbereich der ÄrztInnen fallen, und stehen damit, wie eine Schwester es ausdrückt, „immer mit einem Bein im Knast“.