Der Wanderzirkus wird seßhaft

■ Das Europaparlament stellt die Weichen für Brüssel als Euro-Hauptstadt

Straßburg/Berlin (dpa/taz) - Die Schlacht ist geschlagen Straßburg liegt am Boden -, und ganz Frankreich trauert: Die Mehrheit der Abgeordneten des Europaparlaments stimmte am Mittwoch abend für eine weitere Verlagerung der Parlamentsarbeit nach Brüssel. Dort tagen bereits die Ausschüsse des Parlaments, und dort hat auch die mächtige EG -Kommission ihren Sitz, deren Kontrolle laut EG-Vertrag zu den Aufgaben des Europaparlaments gehört. Mit der Entscheidung sind die Weichen gestellt, daß Brüssel, die ville internationale, und nicht Straßburg (ville d'Europe) den Zuschlag erhalten wird, die bürokratische Hauptstadt jenes Gebildes zu werden, was gemeinhin als „1992“ gehandelt wird.

Selten wurde leidenschaftlicher um eine derart leidenschaftslose Sache gestritten. Obwohl das Europaparlament noch nicht einmal befugt ist, über seinen Tagungsort selbst zu entscheiden (darüber müssen die zwölf Regierungschefs einstimmig beschließen - was sich bislang als unmöglich erwies), löste der Bericht des konservativen Briten Derek Prag, der eine Konzentration der Parlamentsarbeit in Brüssel forderte, eine mehrstündige erbitterte Redeschlacht aus. Die Europäer warfen sich gegenseitig „Verlogenheit“ und „Unfähigkeit“ vor.

Seit nunmehr dreißig Jahren führt das Parlament als vielbespotteter „Wanderzirkus“ ein unstetes Leben zwischen Brüssel, Straßburg (wo die zwölf jährlichen Plenarsitzungen abgehalten werden) und Luxemburg, dem Sitz der Parlamentsverwaltung. Derek Prags Bericht hält den Zirkus für „absurd und kostspielig“. 80 Millionen ECU koste der Transfer von Aktenbergen, Dolmetschern und Angestellten im Jahr - ein Zehntel des Etats des Europaparlaments. Künftig sollten, so der Vorschlag Prags, etwa die Hälfte der 3.000 Parlamentsangestellten in Brüssel ihr festes Quartier beziehen und „Sondersitzungen“ auch in Brüssel stattfinden können.

Obwohl sich die Parlamentarier lediglich auf den zweiten Punkt einigen konnten und vorausschauend den Bau einer Tagungsstätte in Brüssel beschlossen, witterte Frankreichs Europaministerin Edith Cresson den Untergang des Abendlandes, zumindest aber den der Grande Nation. Von der „Marne-Schlacht“, die hier geschlagen werde, war die Rede, von der „nationalen Sache“, die auf dem Spiel stehe - und alle Franzosen, von Gaullisten bis zu Kommunisten, spendeten laut Beifall - umsonst. Einziger Trost: Auch die meisten Abgeordneten der bundesdeutschen Christdemokraten kämpften auf der Seite Frankreichs und verwiesen auf den Symbolwert der Stadt für die deutsch-französische Aussöhnung. Und überhaupt: War Straßburg nicht einst deutsch gewesen?

smo