Demonstranten erobern Wenzelsplatz

Auch am Mittwoch versammelten sich mehrere tausend Menschen in Prag / Die Polizei hielt sich zurück / Freiheit, die Einhaltung der Menschenrechte sowie die Freilassung von Vaclav Havel wurden gefordert  ■  Aus Prag Klaus Bachmann

Eine zweistündige Demonstration von rund 5.000 Menschen ist gestern abend in Prag zu Ende gegangen, ohne daß die Polizei eingegriffen hätte. Bereits vor fünf Uhr hatten sich zahlreiche Passanten am oberen Ende des Wenzelsplatzes versammelt. Reguläre Streifenpolizisten, deren Zahl daraufhin verstärkt wurde, forderten die Wartenden zum Weitergehen auf, kontrollierten die Ausweise von Passanten und versuchten erfolglos, etwa 100 Jugendliche, die sich auf Bänken und Blumenkästen vor dem Wenzelsdenkmal niedergelassen hatten, zum Weggehen zu bewegen. Kurz nach fünf strömte die Menge auf die Platzmitte zu und versammelte sich vor dem Denkmal. Angefeuert von einer etwa 100köpfigen Gruppe Jugendlicher, begannen die Demonstranten, die Freilassung Vaclav Havels zu fordern. Havel war im Zusammenhang mit einer Kranzniederlegung vor dem Denkmal zwei Tage zuvor inhaftiert worden. In Sprechchören, denen sich immer mehr Passanten anschlossen, forderten die Jugendlichen „Freiheit“ und „Menschenrechte“. Behelmte Polizisten oder Wasserwerfer waren nicht zu sehen. Als deutlich wurde, daß die Behörden offensichtlich nicht die Absicht hatten, Gewalt anzuwenden, entwickelte sich auf dem Platz eine gelöste Atmosphäre.

Demonstranten, Zuschauer und Polizisten diskutierten untereinander. „Spritzt ihr wieder?“ fragte eine ältere Frau einen Polizisten. „Wir doch nicht“, distanzierte sich der Polizist grinsend von den Einsatzkommandos, die in den Vortagen die Menge auseinandergejagt hatten. An allen Ecken des Platzes wurde diskutiert. Spontan ließen sich Unbekannte in die Höhe heben, um Ansprachen zu halten. Gegen halb sieben sprach ein Jugendlicher über Bürgerrechte und Meinungsfreiheit. „Und jetzt“, schloß er, „wollen wir unsere Nationalhymne singen und zum Gedenken an Jan Palach eine Schweigeminute abhalten. Anschließend gehen wir dann auseinander, um keinen Vorwand zu liefern, daß sie uns wieder auseinanderjagen.“ Die Menge sang, und anschließend war es eine Minute totenstill auf dem Platz. Doch auch danach blieben die meisten DemonstrantInnen, denn in diesem Moment tauchte Bürgerrechtler Martin Palous auf. Er verlaß eine Erklärung von Thomas Hradilek, dem einzigen noch in Freiheit befindlichen Charta-Sprecher. „Ihr, die Mächtigen unseres Staates, die Ihr alle Gewaltmittel benutzt, um jegliche Aktion zum Gedenken an Jan Palach zu verhindern, schämt Euch. Ihr unterschreibt in Wien Dokumente über die Einhaltung der Menschenrechte und geht hier mit Gewalt gegen die eigenen Bürger vor.“