ABGESOFFENE TRAUMWELTEN

■ Charles Moores IBA-Projekt „Tegeler Hafen“

Jedes Jahr erlaubt sich Charles Moore einen schelmischen Scherz. Kinderbuchzeichnungen ähnlich, verschickt er selbstgemalte Weihnachtskarten an seine Freunde. Es sind wilde Phantasielandschaften in Tusche und Aquarell, in denen auf steilen, zackigen Felsen riesige Jahrmarktschlösser und kleine Hexenhäuschen stehen. Von den Kuppeln wehen bunte Wimpel, und von Terrassen und Treppen steigen Strickleitern zu Luftschlössern und Montgolfieren empor.

Die Traum- und Spielwelten Moores sind, entgegen allen Erwartungen nüchterner Architekturkollegen der Postmoderne, nicht bloßer Zeitvertreib eines alternden Kindes, sondern Programm: Die fliegenden Städte mit ihren erzählerischen Details und ihrer scheinbar naiv-historisierenden Exotik bilden die bauliche Dekoration zur Unterwanderung der streng normativen Architektur. Moore treibt ein sinnloses Spiel mit Formen und Räumen zum fantastischen Lustgewinn.

Schiff und Welle

Charles Moores (mit Partner) IBA-Projekt „Tegeler Hafen“ ist ein Architekturensemble seiner Phantasielandschaften. Eingerahmt zwischen Karolinenstraße und dem Tegeler Hafenbecken, schlängeln sich drei wellenartig geformte Wohnzeilen mit geneigten Dächern. Das Zentrum der Anlage bildet ein oktogonaler Komplex um einen kleinen „Ehrenhof“, in den torartigen Durchgänge führen. Aus ihm heraus entwickelt sich ein großer halbrunder Wohnblock entlang der Uferpromenade. Flankiert wird das wogende Gebilde von sieben putzigen Stadtvillen, einer künstlich angelegten schiffsförmigen Insel, auf der ein Freizeitbad entstehen soll, und der monumentalen Humboldt-Bibliothek, die vor wenigen Tagen eröffnet wurde. Die bewegende Choreographie der einzelnen Bauteile, die zum Wasser ausgerichtet sind, vereinigt ein Terrain aus Wohn-, Freizeit- und Kulturstätten, das durch verbindende Brücken und Stege zusammengehalten wird. Das Ganze sei, so jubelten die Preisrichter, „eine besondere Attraktion für Berlin ... und international ein Zeichen weit über die Grenzen Berlins hinaus“.

Villa und Wohnblock

Die bauliche Extravaganz der Stadtvillen (von Moore konzipiert, dann von verschiedenen Architektenteams ausgeführt) entspricht in Wahrheit der Attraktion Grimmscher Knusperhäuschen, in denen das architektonische Zitat wild herumtanzt wie die Hexe auf ihrem Besen. Alles scheint verzaubert, verkehrt und verrückt und meint nicht mehr sich selbst: Der Architekt Stanley Tigerman sägt seine Villa mittendurch, Antoine Grumbach sperrt seine moderne „Villa Rotonda“ in einen dicken Kubus ein, der zu platzen droht, und Robert Stern verwandelt sein Landhaus in ein feudales Jagdschlößchen. Typologie verkehrt!

Sind die Stadtvillen noch als Ironie, oder besser Karikatur, der Summe kunstgeschichtlicher Originalität zu verstehen, so gerät Moores Wohnblock zu einer baulichen Manipulation, wo die Fassaden ein heimtückisches Spiel mit der Komposition treiben. Die Architektur wird zum Tollhaus aus täuschenden Versatzstücken. Aus der Ferne betrachtet, sehen die acht stufenförmig ineinandergeschobenen Wohnblöcke einer neoklassizistischen Fassadenburg gleich. Nahe genug, jetzt ähnelt der Bau einer niedlich ansteigenden Stadt, verwandeln sich die großen Profile und Umrisse zu einer drollig kleinteiligen Gestaltung dekorativer Details und sich verändernder Formen. Anders gesagt, die Reminiszensen an feudale Architektur verschwinden. Statt dessen erscheint die Fassade eines Sozialbaus. So sind beispielsweise im Hauptwohnblock die hohen Rundbogenfenster, die einem regelhaften Raster angepaßt scheinen und die die Außenwand durch ihr kolossales Profil in ein Sockel-, zwei Haupt-, ein Attika- und das Dachgeschoß unterteilen, ein rein graphisches Element. In Wirklichkeit verstecken sich hinter der fünfgeschossigen Scheinfassade aber acht Stockwerke, weil en detail die Wand das quadratische Fensterraster übernimmt. Weglügen kann die Komposition die Sozialbaustruktur schon deshalb nicht, da an verbindenden Bauteilen die Geschosse klar zu sehen sind, und betritt man das Treppenhaus, fällt einem fast die niedrige Decke auf den Kopf.

Humboldt-Bibliothek

Moores Humboldt-Bibliothek spielt mit anderen Kulissen. Der langgestreckte Baukörper, teils Orangerie, teils Fabrikhalle, mit einem merkwürdigen Halbtonnen -Halbsatteldach gedeckt und einem riesigen, quer zum Eingang gestellten Portikus, droht regelrecht mit seiner Monumentalität.

Im Gegensatz zum wuchtigen Äußeren der Bibliothek wirkt der Innenraum fast intim und spielerisch. Die Erkerchen und Giebelchen, die Nischlein und Bögelchen aus der Puppenwelt des Wohnblocks sind hier nach drinnen geholt, zur Inszenierung des Behaglichen. Raffiniert gebündeltes und vielfach gebrochenes Licht fällt durch das holzgetäfelte Tonnengewölbe in die große Halle. Eine geschwungene Empore durchläuft den Bau. Bizarr geformte Metallbogen auf der Galerie und über den Regalzugängen geben trotz des industriellen Designs der Pfeiler und Träger dem Raum eine vertraute Atmosphäre. Da kann man dann in den kleinen Kapellchen hocken und kontemplativ schmökern oder am prasselnden Kaminfeuer in bequemen Sesseln erotische Literatur lesen (soweit vorhanden). Für Kids gibt es Kuschel - und Spielecken in der Kinderbuchabteilung und daneben eine Kaffee-Ecke, in der alleinerziehende Mütter alleinerziehende Väter anmachen können. Home, sweet home. Moores Phantasielandschaften sind ins Private gerutscht.

Traum und Wirklichkeit

Im Hokuspokus postmoderner Stadtlandschaft kam der Architekt amerikanischer Freizeitparks mit Geisterbahn und Irrgarten aus lustigen Dekors den heimatsuchenden Kulissenschiebern gerade recht. Die fliegenden Städte seiner Weihnachtspost, putzige Sehnsuchtsstätten ausgeschlossener Wirklichkeit und künstliche Inseln baulicher Illusion, sind am Tegeler Hafenbecken gelandet. Die schnuckelige Stimmung, die für das Innere der Bibliothek so gelungen inszeniert ist, wird draußen zum alten Trugbild einer Theaterwerkstatt zur Seelenwanderung in traditionellen Kulissen. Den politischen Identitätsverkäufern aber dient das moderne Märchenschloß ernsthaft zur Verlebendigung glorreicher Vergangenheiten ebenso gut wie als zukünftiges Geschäft. Disney-Tegel ist jetzt schon der spöttische Ausdruck für ein Berliner Tourismusprojekt, wo das Spiel mit Formen und Zitaten architektonische Erlebnisräume inszeniert, durch die sich Tausende allsonntäglich wie Statisten hindurchbewegen. Der Raum, für Moore spekulativer Ort einer Traumwelt, ist in Tegel zu einem bühnenähnlichen Spielraum verwandelt worden, wo das Leben nichts sein soll als Maskerade inmitten verschiebbarer Versatzstücke. Jetzt halten die Moorschen Phantasiewelten die „besetzt“, die in Wirklichkeit mit scharfer Munition schießen und nicht mit Platzpatronen, die Identität im Gestern verkaufen und für die Tegel ein neues Medium der Simulation ist. Anything goes!

rola