Sicherheit geht vor Recht. Gnade nach dem Recht. Wo bleibt das Recht?

Horst Mahler These 1

Der deutsche Terrorismus ist die Frage nach unserem Bewußtsein von Staat und Recht und Freiheit.

In gewisser Weise ist das die Frage nach unserem Selbstverständnis.

In der Gestalt des Terrorismus erweist sich diese Frage nunmehr als unausweichlich. These 2

Nicht eine Amnestie oder die Begnadigung verurteilter Terroristen wird den Terrorismus verschwinden machen, sondern die Antwort auf die Frage, die er ist. * * *

Erfassung des Gegenstandes

Wer hier in Terroristen nichts als Kriminelle sieht, und nur dies, daß sie sich gegen das Gesetz vergangen haben, der gleicht dem Blinden, der ein Gemälde vor sich weiß und dieses deuten will.

Die erste Annäherung an das Problem vollzieht sich in der Antwort auf die Frage, was die Terroristen über ihr Sein als Verbrecher hinaus sonst noch sind. Erste Behauptung

Ich behaupte, daß sie denkende Wesen sind, die in ihrer Zeit und auf ihre Weise die Identität von Denken und Sein als das Prinzip ihrer Existenz für sich entdeckt haben. Das erklärt, daß sie fähig waren, das Angebot einer bürgerlichen Existenz auszuschlagen und gegen die Welt, wie sie ist, Krieg zu führen. Zweite Behauptung

Ich behaupte auch, daß sie sich dem von der Aufklärung herkommenden Humanismus verpflichtet fühlen und gerade deshalb unfähig sind, in Auschwitz den Kulminationspunkt der Aufklärung sowie im Archipel Gulag die Wahrheit des Marxismus zu erkennen.

Dabei ist das gar nicht so schwer: Den Nationalsozialisten ging es ebenso wie den Kommunisten um „den neuen Menschen“. Um ihn zu schaffen, versuchten jene, die Dominanz und Reinheit der germanischen Rasse herzustellen, diese, die besitzenden Klassen zu liquidieren und die Herrschaft des Proletariats aufzurichten.

Ihre Gemeinsamkeit haben sie in dem erweiterten Experimentierfeld, das nicht mehr nur die Objekte der Naturwissenschaften umfaßt, sondern auch das menschliche Gemeinwesen selbst. Das heißt, der Mensch als Gattungswesen wurde einem rationalistischen Kalkül unterworfen und zum Objekt der Manipulation. Hinweis auf Nietzsche

So erfüllte sich die Prophezeiung des „tollen Menschen“, daß wir selber zu Göttern werden mußten, nur um der Aufklärung würdig zu erscheinen, die das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, getötet hatte. Erste Schlußfolgerung

Aus dieser These folgt übrigens der Satz, daß die Totalitarismen des 20.Jahrhunderts in den Gesellschaftswissenschaften ihre Brutstätte haben.

Es liegt auf der Hand, daß man die von ihnen ausgehenden Gefahren nicht mit Verboten bekämpfen kann.

Diese Gefahren sind viel größer und unmittelbarer als diejenigen, die von Alt- und/oder Neonazis bzw. Kommunisten ausgehen. Erster Ausblick

Von diesem Standpunkt her ergibt sich die Sicht auf den Weg, der vom Abgrund wegführt und aus dem Glaubenszwang des naturwissenschaftlichen Weltbildes geleitet.

Das ist zugleich der Weg, auf dem der Terrorismus mit der einfachen Antwort auf seine Frage „Wer bin ich?“ überwunden wird. Denn die Terroristen selbst verkörpern rein, was sie zu bekämpfen meinen, und sie halten bei sich nicht aus, wenn sie das begreifen. * * *

Genese des deutschen

Terrorismus

Die geschichtlichen Ereignisse, die ihr Denken bestimmen, sind der Erste Imperialistische Weltkrieg, die Russische Oktoberrevolution, die Niederlage der Arbeiterbewegungen in Westeuropa zwischen den Weltkriegen, der Nationalsozialismus und der Reale Sozialismus.

Vietnam war das Brennglas, das ihre Gedanken in den einen einzigen Impuls bündelte, der sie zur terroristischen Tat entzündete: Widerstand!

Widerstand, den die Väter nicht oder nicht genug geleistet haben. Widerstand gegen die Kräfte, die vermeintlich es bewirkten, daß die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland - die gerade erst die Vernichtung der jüdischen Rasse billigend hingenommen hatten - jetzt die im Fernsehen übertragenen Bilder von der täglichen Menschenjagd in Vietnam aushielten und sich nicht empörten.

Der Terrorismus der RAF ist das letzte Experiment einer langen und frustierenden Versuchsreihe, mit der die '68er herausfinden wollten, wie dieser Duldung und offenen Billigung des staatlich organisierten Massenmordes ein Ende gesetzt werden könnte.

Vietnam. Das war das Spanien ihrer Generation - aber ohne die Möglichkeit der direkten Teilnahme am Freiheitskampf.

Das Konzept Stadtguerilla der RAF war der Versuch, dieses Dilemma aufzuheben.

Es war für die Gründer der RAF nicht wichtig, ob es aus der marxistischen Theorie ableitbar, realitätstüchtig und in sich stimmig war. Das hat die Linke, die dem Terrorismus kritisch gegenüberstand, stets geflissentlich übersehen.

Sie haben - weil es ihnen gut ging - irgendwann die Bilder von den Leichenzählungen in Vietnam nicht mehr ausgehalten. * * *

Warnung vor einer

Gedankenfalle

Auf diesem Wege kommt man leicht zum Terrorismus. Es ist aber nur einer von vielen.

Schwer ist es, sich daraus zu lösen.

Einsicht in den „Irrsinn des Terrorismus“ (Marion Gräfin Dönhoff) ist nicht der Ausweg. Terrorismus hat den Irrsinn nur an sich, insofern er ein Versuch ist, dem Irrsinn zu entkommen. Er reflektiert so nur den Irrsinn, der ihm vorausgesetzt ist.

Einen gefangenen Terroristen zu resozialisieren heißt, ihn zu überreden, im Irrsinn zu leben.

Wo die Vernunft als das Böse gilt (Michel Foucault), die Sprache als faschistisch entlarvt ist (Roland Barthes) und das aufgeklärte bürgerliche Subjekt sich in den Werken des Marquis de Sade porträtiert findet (Horkheimer/Adorno), dort ist Resozialisierung von Rebellen nur als die Abdankung des Geistes denkbar. Deshalb ist mir unwohl, wenn man von mir sagt: „Ja der, der ist resozialisiert.“ * * *

Am Ende des Tunnels ist Licht

Erfahrungsbericht

Das intensive Bemühen um die Rechtfertigung des Terrors erwies sich als Ausbruch aus den Denkzwängen des naturwissenschaftlichen Weltbildes. Dilemma

Der Standpunkt über dem Rationalismus der Aufklärung, auf den die deutsche Ideologie früh hingewiesen hatte, ist vornehmlich in den Naturwissenschaften gewonnen worden. Er beginnt von dorther sich auszubreiten. Als Beleg lassen Sie mich Hoimar von Ditfurth zitieren, der in seinem Buch Der Geist fiel nicht vom Himmel schreibt:

Das Furchtbare ist ja gerade die Tatsache, daß es nicht immer und nicht nur Heuchelei ist, wenn die Machthaber in ideologisch-totalitär regierten Gesellschaften auch die rigorosesten Unterdrückungsmaßnahmen noch mit der Sorge um das Wohl der von ihnen betreuten Menschen begründen. Schließlich läßt, um mit Hölderlin zu reden, nichts die Erde mit größerer Sicherheit zur Hölle werden als der Versuch des Menschen, sie zu seinem Himmel zu machen. Niemand vermehrt die Übel dieser Welt in gleichem Maße wie jene, die an ihre völlige Ausrottbarkeit glauben.

Zuerst ist das geistige Fundament des Faschismus gebrochen. In unseren Jahren stürzte das sozialistische Theoriengebäude zusammen.

Der Liberalismus hat seit 150 Jahren ein Leben nur noch als das im Vergleich mit den totalitären Heilslehren und ihren politischen Realisationen kleinere Übel. Jetzt, wo ihm diese mächtigen Feindbilder genommen sind, läßt sich sein schnelles und unrühmliches Ende voraussagen. Dieses kündigt sich an in der umsichgreifenden Verachtung gegenüber Politikern. In einer Verachtung, die von ganz anderer Art ist als der Haß auf einen politischen Gegner.

Auf den Trümmern der ideologischen Systeme stehend, die die aufgeklärte Menschheit an die Stelle der mittelalterlichen Mythen gesetzt hatte, haben wir einen höheren Standpunkt erreicht.

Was sich vor unseren Augen heute im Ostblock, in Jugoslawien, in China und in den sozialistisch orientierten Entwicklungsländern vollzieht, befreit unser Denken in einem Maße, das seinesgleichen wohl nur in der Renaissance und in der Aufklärung hat.

In diesem Ereignis hat auch der Terrorismus seinen Boden verloren. Dieser suchte seine Rechtfertigung in der Vorstellung, er könne die Geburtswehen herbeizwingen, die die längst überfällig geglaubte „neue Gesellschaftsordnung“ zur Existenz bringen würden.

Es genügt, das verstehend aufzunehmen, was sich unmittelbar bereits ereignet hat. Die geistige Durchdringung des Zustandes der Welt bringt unmittelbar einen höheren Begriff unserer selbst hervor. So verändert sich die Welt.

Wir erkennen, daß wir nicht die Weltbaumeister sind, für die wir uns gehalten haben. Wir begreifen, daß wir nicht eine bessere Welt entwerfen und nach unseren Plänen verwirklichen können. Wir werden uns bewußt, daß es unsere Entwürfe sind, die uns versklaven. Wir gestehen, daß nichts die Erde mit größerer Sicherheit zur Hölle werden läßt, als unsere Versuche, sie zu unserem Himmel zu machen (Hölderlin). These 3

Terroristen und Verfassungsschützer sind gleichermaßen ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.

Wirksamer Verfassungsschutz und Überwindung des Terrorismus geht heute allein von der Philosophie aus. * * *

Mangel an Selbstvertrauen

als tödliches Leiden

Die von Berufs wegen den Terrorismus als eine Spielart der Kriminalität zu bekämpfen haben, werden auf diese Brücke nicht treten wollen. So werden sie fortfahren, dem Terrrorismus Rekruten zuzuführen.

In gewisser Weise erleiden sie das gleiche Schicksal wie ihre Widersacher: Sie erreichen das Gegenteil von dem, was anzustreben sie vorgeben.

Der Terrorismus wächst, indem man ihn mit dem Ausnahmezustand bekämpft. Das ist eine durch die Praxis gut bestätigte Grundannahme aller Guerillastrategien.

Im Kampf gegen den Terrorismus sei die Bundesregierung „bis an die Grenzen des Rechtsstaates“ gegangen, bekannte Helmut Schmidt. So spricht die Macht, die das Recht nur als ihre Grenze weiß und als Fessel empfindet.

Das Recht aber ist das Dasein der Freiheit. Man kann diese nicht bewahren, indem man das Recht preisgibt.

Damals hatte die Regierung - gerade weil sie eine deutsche war - in das Zentrum des Rechtsstaates vorstoßen wollen. Indem sie es versäumte, hat sie einen Beitrag zur Konservierung des deutschen Terrorismus geleistet.

Hier kommt das Spezifische des deutschen Terrorismus ins Blickfeld.

Dieser läßt sich nicht ablösen von dem historischen Hintergrund, den die Geschehnisse in den Jahren 1933 bis 1945 bilden.

Die Rebellen ziehen ihre Kraft und ihre Entschlossenheit aus der Faszination, die ihr Staatsideal auf sie ausübt. Diese Vorstellung aber kann sich gegen die Einmischung der Realität nur durch die unbedingte, zur fanatischen Feindschaft gesteigerte Verwerfung des wirklichen Staates schützen und rein erhalten.

Die historische Reminiszenz könnte das allein nicht leisten. Dazu bedarf es eines gegenwärtigen Staatsverhaltens, das geeignet ist, diese Reminiszenzen zu aktivieren.

Deshalb stürzen sich die Rebellen auf jeden staatlichen Fehltritt - wie Verdurstende auf die rettende Quelle -, um in peinlich wirkender verbaler Überziehung der durchaus notwendigen und berechtigten Kritik den gegenwärtigen Staat als „faschistisch“ zu denunzieren. Daß sie damit den historischen Faschismus verharmlosen und seine Opfer verhöhnen, wird ihnen nicht bewußt.

Die Repräsentanten des wirklichen Staates ähneln oft Marionetten - an den Fäden der RAF.

Das Kalkül der Terroristen berücksichtigt durchaus, daß sich im Staat gegensätzliche Interessen zu einem Ganzen fügen. Sie sind sich irgendwie auch bewußt, daß dieser unendliche Prozeß der Integration das Leben des vorhandenen Staates ist.

Sie rechnen damit, daß jede ihrer Aktionen Reaktionen provoziert, die tendenziell die Liquidation der Institutionen des Rechtsstaates bewirken, die den lebensnotwendigen Integrationsprozeß vermitteln.

Ihre Strategie beruht auf der Erwartung, daß der Staat entartet und deshalb die Integration immer weniger gelingt. Das nämlich hätte zur Folge, daß die nicht mehr integrierbaren Sonderinteressen außerkonstitutionelle Wege zu ihrer Durchsetzung suchen. Das würde wiederum die liquidatorischen Tendenzen der Staatsbürokratie verstärken usw. usf.

Da eine revolutionäre Situation in der Bundesrepublik nicht abzusehen ist, setzen sie auf jenen Teufelskreis, der günstigstenfalls in einer bürokratischen Diktatur, wahrscheinlich aber in einer neuen ideologischen Despotie rechter Provenienz endet, die dann allerdings in einer historischen Dimension den bewaffneten Widerstand tatsächlich auf die Tagesordnung setzen würde.

Diese pragmatische Erwartung ist der strategische Zentralpunkt im Konzept Stadtguerilla der RAF. Herr Zimmermann ist darin sozusagen als agent provocateur fest eingeplant.

Die nicht wirklich überwundene faschistische Grundhaltung in weiten Kreisen der Bevölkerung, die sich als „öffentliche Meinung“ in der psychologischen Kriegführung gegen die RAF anerkannt wieder politisch artikulieren darf, trägt wesentlich dazu bei, den Prozeß in der angedeuteten Richtung zu dynamisieren. Der Deutsche Herbst ist der Beleg für diese These. These 4

Die eigentliche Bedrohung ist nicht das Häuflein Terroristen. Sie geht von dem Mangel an Selbstvertrauen aus, daß die Repräsentanten des Staates in ihren Reaktionen auf die Anschläge der RAF und anderer vergleichbarer Gruppen offenbaren.

Der Staat ist ein spirituelles Phänomen. Er hat sein Fundament in den Überzeugungen seiner Bürger. Von daher bezieht er seine Kraft. Je schwächer dieses Fundament ist, desto mehr Bürgerkriegsgerät wird die Regierung anschaffen. Dieses mag den Politikern die Illusion von Sicherheit vermitteln, in Wirklichkeit aber entfremdet sein Anblick die Bürger dem Staat noch tiefer. Das Resultat ist ein schwächerer Staat. * * *

Zweiter Ausblick

Doch ist das fast schon Vergangenheit. Die politische Entwicklung außerhalb Deutschlands - in China, Vietnam, Kambodscha, Persien und der Sowjetunion - hat dem Terrorismus den ideologischen Wind aus den Segeln genommen. Die sozialistische Weltrevolution ist kein Leitbild mehr.

Das waren und sind noch günstige Bedingungen dafür, daß Repräsentanten des Staates und wichtige Meinungsmultiplikatoren aus dem Deutschen Herbst gelernt haben und noch weiter lernen. Das Konzept der RAF ist heute besser als 1977 durchschaut.

Vielleicht ist das Ruder schon herumgerissen und der Kurs richtig bestimmt. Gewisse Signale aus der Umgebung des Bundespräsidenten scheinen das zu bestätigen.

Man hat aber wohl noch nicht erkannt, wie notwendig eine demonstrative Geste des Staates ist. Eine Geste, mit der er eindeutig seine Mitverantwortung für die Entstehung des Terrorismus annimmt. Diese Mitverantwortung ist in seiner faschistischen Entartung begründet. Er muß sich aus dieser Entartung geistig erst noch wiederherstellen. Nur auf diesem Wege wird der wirkliche Staat gegen den Idealstaat eine Chance bekommen.

Die Jenninger-Rede sollte wohl ein Schritt in dieser Richtung sein. Der Versuch ist gründlich mißlungen, weil er am falschen Gegenstand unternommen wurde. An einem Gegenstand, der aus Gründen der Piettät dem Meinungskampf entrückt bleiben muß.

Der deutsche Terrorismus ist ein Gegenstand, an dem unser Bewußtsein die Kontroverse aushält, bei dem nicht Scham und heilige Scheu die Gedanken am Boden hält, der aber die gleiche Wurzel hat wie der Holocaust.

Jenninger hat in seiner Rede zum Judenpogrom wohl den Faschismus in seiner Normalität bewußt machen wollen. Wäre dieser Gedanke aufgenommen worden, hätte er zu der Schlußfolgerung geführt, daß der Faschismus und jede andere Spielart des Totalitarismus nur durch einen geistigen Prozeß, der noch nicht stattgefunden hat, überwunden werden könnte. These 5

Der Terrorismus ist ein Symptom, das auf den Faschismus als noch nicht aufgehobene - und daher jederzeit wiederholbare Geschichte hinweist.

In der Diskussion über eine Amnestie für Terroristen könnte die Aufhebung der unheilvollen deutschen Geschichte gelingen. Das Staatsvolk in der Bundesrepublik bedarf dieser Amnestie. Sie wäre der Ausdruck eines Erkenntnisschrittes, der uns eine Zukunft über das Jahr 2000 hinaus eröffnen könnte.