Poesie und Polizei

■ Künstlerischer Nonkonformismus und totalitäre Systeme

Elisabeth Lenk

Ich möchte mich mit einem Kapitel befassen, das trotz der vielen Versuche einer Aufarbeitung der Vergangenheit noch nicht geschrieben worden ist: mit dem seltsamen Kunsthaß des zwanzigsten Jahrhunderts, dem Haß auf die Poesie. Ist nicht die Poesie von Anbeginn gewaltlos gewesen? Ihr Schutzheiliger Orpheus hatte die Gabe zu heilen und noch die wildesten Tiere zu zähmen. Und doch wurde die Poesie - ich gebrauche den Begriff hier im Sinne der deutschen Romantik: als die allen Künsten gemeinsame Substanz - wurden Künstler verfolgt, vertrieben, verurteilt, ihre Werke verboten und sogar vernichtet. Sie saßen in faschistischen, stalinistischen und sogar demokratischen Todeszellen. Verbrechen lagen keine vor, aber Gedichte. Woher rührt dieser Haß gegen die Poesie, das Mißtrauen gegen sie?

Nun, ich glaube, daß diese Entwicklung mit der totgesagten Moderne in der Kunst zusammenhängt. In der Tat waren es die emanzipierte Poesie, die atonale Musik und die gegenstandslose Malerei, welche die Wut entfachten, die Wut Kalibans, der sein Bild nicht wiedererkennt. Plötzlich wurde der Poesie ein Passierschein abverlangt, die hervorbringenden Kräfte wurden von den sanktionierenden Kräften abhängig gemacht. Tragische, düstere maßlose Themen gingen zu Händen der Sicherheitspolizei. Zarte, hochgezüchtete, müde kamen vors Erbgesundheitsgericht. Großen Malern wurde der Einkauf von Leinwand und Ölfarbe verboten, Blockwarte kontrollierten nachts die Staffeleien. Kunst fiel unter Schädlingsbekämpfung. „Persönlichkeiten, gegen die man nichts einwenden könnte, wenn sie sich mit Schweinemast oder Mehlprodukten beschäftigten, traten hervor, erklärten den Menschen für ideal, schrieben Wettgesänge und Preislieder aus und erhoben sich ins Allgemeine.“ So Gottfried Benn nach seiner Ernüchterung.

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Im Lied der Modernen singen nicht mehr Nachtigallen, sondern ganze Systeme; die versteinerten Verhältnisse fangen an zu tanzen. Seit etwa hundert Jahren befindet die Poesie sich im Streik angesichts der Gesellschaft. Sie singt keinem Herrscher mehr, sie jubelt nicht bei offiziellen Feiern. Die Moderne, das ist die Auferstehung des Kleinen, des Aperspektivischen, die Erhebung gegen das Monumentale.

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Emanzipierte Poesie, das war die Emanzipation des Gefühls und der Sinne. Die Künste ergriff die Lust am Zerbrechen einer kollektiven Wahrnehmungswelt, die immer schon eine versöhnliche Fiktion gewesen war. Es entstand nie Gesehenes, nie Gehörtes, statt der Uniform die Verschiedenheitsform, statt des Metrums der individuelle Rhythmus, statt der kollektiven Orgel die Polyphonie von Stimmen, ja zuweilen blieb nur noch eine einzige, nackte Stimme übrig, die gegen ein ganzes Orchester ansang. Bewußtseinstonlagen, Klangfarbenmelodie. Nicht einmal die überbesetzten Mammutorchester standen mehr im Dienst des Kollektivs, sie wurden vielmehr eingesetzt zur Expression einer unendlichen Vielfalt von seelischen Regungen in entsprechend individueller Klangmischung. Die historischen Verkleidungen fielen, es blieben nur Stimmen übrig. Die moderne Poesie erwähnte keine geschichtlichen Perioden mehr, keine Staatsstreiche, keine Königsmorde, keine Hofintrigen. Statt eines Hymnus aufs Kollektiv stimmte sie, wie in der orphischen Frühzeit, den Gesang der Erde an. Die Künstler, Liebhaber des Schönen, wollten einfach nur eine „orphische Erklärung“ der Erde geben; unterm Druck der Verhältnisse wurden sie allerdings zur Kritik, zur unerbittlichen Darstellung der bürgerlichen Häßlichkeit, wobei das sogenannte Schöne Teil des Häßlichen ist, genötigt. Mallarmes Hymne an die Schönheit hat sich, gleichsam gegen seinen Willen, auf geheimnisvolle Weise verzerrt. Statt der Schönheit fing er an, ihre schmerzliche Abwesenheit zu beschreiben. Er entwarf eine „Ästhetik des Bourgeois“ mit dem bezeichnenden Untertitel: „oder die universale Theorie der Häßlichkeit“. „Ich werde also mit dem Negativen beginnen“, kommentierte er melancholisch sein Unternehmen, „mit dem Häßlichen und nicht mit dem Schönen, dessen Appendix es sein sollte“.

(...) Polis und Poesie

Im Kunsthaß, in der Verständnislosigkeit gegenüber lebendiger, neuer Kunst waren die Totalitarismen, was immer die Historiker über deren Differenz vorbringen mögen, sich leider einig. Ist es ein bloßer Zufall, daß man im Jahre 1937, dem Jahr der Ausstellung „Entartete Kunst“, von kommunistischer Seite die damals bereits von beiden Seiten revozierte, kurze Gastrolle Gottfried Benns in der offiziellen nationalsozialistischen Kulturpolitik zum Anlaß nahm, um die Expressionismusdebatte zu eröffnen, die mit üblen Beschimpfungen eben jene Bewegung überhäufte, die soeben den Anstoß für Hitlers Verfolgungsjagd gegeben hatte? Brecht hat vorsichtig, aber deutlich auf diese Parallele hingewiesen: „Pferde sind tatsächlich nicht blau, das wurde in der Debatte (gemeint ist eben die Expressionismusdebatte) mit Recht gebrandmarkt ... Auch Herr Hitler donnerte dagegen, daß die Pferde bei Marc nicht so sind wie in Wirklichkeit ...“

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Immer schon gab es die Differenz, aber auch Konkurrenz zwischen Polis und Poesie, zwischen den hervorbringenden und den sanktionierenden Kräften. Zwei fundamental verschiedene Haltungen, deren jede ihre Berechtigung hat, stoßen hier aufeinander. Die sanktionierenden Kräfte beschränken sich darauf, gewisse Segmente dessen, was jene geschaffen haben, auszuwählen und als verbindlich für alle zu setzen, was augenblicks die hervorbringenden Kräfte zum Widerspruch reizt, so daß es mitunter aussieht, als seien sie, die doch die eigentlich positiven Kräfte sind, destruktiv gegen alles Bestehende gerichtet. Die sanktionierenden Kräfte setzen sich den hervorbringenden gegenüber als das Höhere, als autoritäres Prinzip. Dabei sind die hervorbringenden Kräfte die eigentlich souveräne Instanz einer jeden Gesellschaft, weil nur sie in der Lage sind, die Regel, die sie geschaffen haben, wieder außer Kraft zu setzen. Weil für sie die angebliche Ewigkeit der Regel nicht existiert, aus der die sanktionierenden Kräfte ihre Autorität herleiten, mißtrauen die sanktionierenden Kräfte den hervorbringenden und versuchen vergeblich, sie unter ständiger Kontrolle zu halten. Das Verhältnis von Polis und Poesie, dessen Schwierigkeit als erster Platon in seinem Staat aussprach: sofern sie nicht das Lob der Götter und Herrscher sänge, heißt es dort noch recht unumwunden, müsse die Poesie aus der Polis vertrieben werden, hat sich dann zeitweilig harmonisiert. Es sind dies die sogenannten „klassischen“ Phasen, in denen der Poesie die doppelte Funktion der sozial -kulturellen Integration und der Repräsentation zugewiesen wurde. Insofern sie das Zeitalter der Repräsentation ablöste, der Kunst die offizielle Funktion nahm und ihr eine quasi-private Existenz zuweist, ist die bürgerliche Gesellschaft, auch wenn sie ihre „Klassiker“ fetischisiert, der Klassik in der Kunst nicht günstig. Die Ästhetik des Bourgeois ist paradox. Sie ist dadurch charakterisiert, daß eine zutiefst kunstfeindliche Gesellschaft die kunstfreundliche Attitüde der feudalen Gesellschaft (allerdings unter Vermeidung von Kosten) imitiert, ein heuchlerisches Doppelspiel, das die Kunst dazu treibt, zum ersten Mal in der Geschichte jede offizielle Funktion zu verweigern. So kommt das Paradox zustande, daß eine Gesellschaft, die immer nur die klassischen Epochen der Geschichte anerkennt, als ihr Korrektiv und ihre Wunde die antiklassische Moderne hervorgebracht hat, was nur eine Bestätigung dafür ist, wie labil das Gleichgewicht selbst der klassischen Epochen gewesen sein muß, da nun einmal die hervorbringenden Kräfte sich niemals dauerhaft für die Ziele der sanktionierenden Kräfte einspannen lassen.

(...) Staaliches Monopol

aufs Ästhetische

Das neue Moment der totalitären Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts war, daß man die Kunst aus ihrer nur privaten, sogenannt dekadenten Existenz, die sie in der bürgerlichen Gesellschaft gefristet hatte, erlösen und ihr wieder eine quasioffizielle Rolle im System zuspielen wollte. Diese neue Rolle jedoch - das wird ganz offen ausgesprochen - war nicht mehr eine der Repräsentation, sondern der Propaganda. Die Nationalsozialisten haben die organisatorische Konsequenz aus dieser Kunstauffassung gezogen. Im „Kulturwerk“ des Nationalsozialismus, auf dessen Organisation die Nationalsozialisten so stolz waren, wurden die Künste, alle Künste, folgerichtig dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstellt. Die totalitären Systeme machten Anleihen bei der klassischen Ästhetik. Sie suchten die Künstler für sich zu gewinnen, ja, eine Zeitlang läßt sich beobachten, daß sie regelrecht um sie warben. Zugleich bedeutete diese Usurpation ästhetischer Elemente auch, daß sie diejenigen, die sich verweigerten, die der Politik das Monopol auf Zelebrierung des Ästhetisch -Feierlichen streitig machten (also alle radikal Modernen) erbittert hassen, verfolgen, ja sogar vernichten mußten. Diese aus dem Totalitarismus stammende Zweideutigkeit haftet dem Begriff des Ästhetischen noch heute an. Statt nun aber ideologiekritisch die falsche Vermischung des Totalitären mit dem Ästhetischen aufzuzeigen, wird der historische Zusammenhang zum willkommenen Argument der immer noch Kunstfeindlichen gegen Ästhetisches überhaupt. Ich will hier die These aufstellen, daß die Totalitarismen eine eigene Ästhetik entwickelt haben, eine Ästhetik der Macht, die mit der Ästhetik der Moderne nichts zu tun hat, auch wenn hier und da authentische Künstler wie Gottfried Benn oder Bertolt Brecht sich augenblicksweise bemühten, an ihr mitzuwirken. Es wurde ein Amalgam von etwas hergestellt, was eigentlich unvereinbar ist: aus Poesie und Polizei, Kunst und Macht, Ästhetischem und Politischem. Und es gilt heute, diese Vermischung zu zeigen, bloßzustellen, um ein für allemal eine Verwechslung unmöglich zu machen, um eine posttotalitäre und postklassische Ästhetik vorzubereiten, die ihre Lehren zöge aus den furchtbaren Krämpfen und Schmerzen dieses Jahrhunderts. Auf keinen Fall liegt die Lösung im Überbordwerfen der Ästhetik, die man nach wie vor gern als Ästhetizismus denunziert, wie es uns einige übereifrige Aufklärer vorexerzieren, denn eben der Gestus des Überbordwerfens erinnert noch allzu sehr an die Tendenz zur Ausschließung Abweichender. Die Lösung liegt im Gegenteil in ihrer unmißverständlichen Neuformulierung. (...) Das Ornament der Masse

Es geht mir nicht um Moral im üblichen Sinne, nicht darum, Einzelnen ihr Engagement in einem totalitären System als Schuld anzukreiden, vielmehr will ich die prinzipielle Unmöglichkeit der Vermischung von Kunst und Macht in einer posttotalitären Welt aufzeigen. Grundzug der Ästhetik der Macht ist das Monumentale, das ins Militärische hinüberspielt, bis beide Monumente im Ornament der Masse miteinander verschmelzen. Aus dieser Verschmelzung resultiert als ein weiteres Merkmal der Ästhetik der Macht: die Entindividualisierung. Die totalitäre Ästhetik entfaltet sich im Sturmlauf, im Sturmmarsch, im Soldatenlied und im Sprechchor. Sie hallt wider im Marschtritt der Regimenter, im Rhythmus der Arbeit, im Dröhnen der Motoren und Propeller. Der Mensch ist immer nur Teil eines eindrucksvollen Gesamtmusters, Klangelement im Chor, diszipliniertes Bewegungselement in einer Massenfigur des Aufmarsches oder Ballets. Charakteristisch für diese Ästhetik ist es überdies, daß das Ornament, welches die Masse bildet, auf einen Punkt außerhalb hin, der zugleich Fluchtpunkt ist, geordnet wird; mit anderen Worten: hier herrscht die Zentralperspektive. Politisch gesehen ist das Ganze auf einen über allen stehenden Führer, ästhetisch auf ein außerhalb der Masse existierendes Gesamtbewußtsein hin angelegt. Nicht bloß die Künste, sondern alle in die Ordnung sich integrierenden Menschen bilden miteinander ein Gesamtkunstwerk. Selbst Trotzki, der Intellektuelle des Bolschewismus, ist für eine derartige Ästhetik der Macht eingetreten. In einer Reihe von Aufsätzen, die in der Prawda veröffentlicht wurden (er faßte sie dann unter dem Titel Literatur und Revolution zusammen), plädierte er fürs ästhetisch Monumentale. Mit der Revolution hätten sowohl der individuelle Künstler als auch der zufällige Einzelheld an Bedeutung verloren. Wahrer Autor und eigentlicher Held der Revolution sei die Revolution selber. Der Größe der Ereignisse entspreche in der Literatur die epische Großform, in der Malerei das große Fresko, das große Format. Die Ereignisse richtig darstellen, heiße überdies, sie nicht von unten darstellen, aus der Froschperspektive einer zufälligen Einzelperson. Dies sei eine Verzerrung, denn ein beliebiges Individuum vermag nur Fragmentarisches zu sehen, wo es doch ums Wohl des Ganzen geht. Auch die Forderung nach der Zentralperspektive fehlt also nicht. Der einzige Punkt, von dem aus die Geschichte der Revolution als ganze überschaubar sei, sei der Standpunkt der Partei. Nur von ihrer hohen Warte aus lasse sich die Poesie der Revolution schreiben. Die sogenannten Weggenossen der Revolution wie Pilnjak, Iwanow, etc, seien unfähig, sich zu ihr zu erheben. Sie sähen nicht den heroischen Prozeß, sondern immer nur das Zufällige, Alltägliche, mit einem Wort das Prosaische. Aber immerhin blitzen in diesem Zusammenhang dem späteren Emigranten und Weggenossen Andre Bretons ketzerische Gedanken auf. Wie, wenn es diesen höheren Standpunkt gar nicht gäbe? Dann hätten die unerhörten Opfer, die die Geschichte fordert, keinen Sinn, die Geschichte wäre nur mehr ein Irrenhaus. Etwa zur gleichen Zeit wie Trotzki schrieb am anderen Ende der „europäischen Nacht“ Martin Heidegger: „Ich glaube, ein Tollhaus hat einen klareren und vernünftigeren Innenaspekt als diese Zeit.“

Benns volkhafte Sendung

Während Trotzki, mehr oder weniger unfreiwillig, aus der Geschichte austrat, trat Heidegger mit pathetischer Geste ins Tollhaus ein, indem er in seiner Rektoratsrede dem deutschen Sturm einen griechischen Nimbus verlieh. Auf die „Bewegung“, ihre angebliche Größe und Wucht anspielend, zitierte er Heraklit: „Alles Große steht im Sturm.“

(...)

Gottfried Benn, der zu den wenigen authentischen deutschen Künstlern gehörte, die das Angebot des neuen Regimes zur Mitarbeit annahmen, hat sich über Nacht aus einem Meister der Kleinkunst in einen Trompeter des Monumentalen verwandelt. Er hat das Gedicht verlassen und ist in die Geschichte übergetreten. Demonstrativ nimmt er Abschied von Liberalismus, Individualismus und von jener Dekadenz, in der er noch eben schwelgte. Laut denkt er nach über den Staat und die Intellektuellen, äußert Gedanken zur Lage. Ohne jede Ironie preist er die überirdische Macht des Irdischen und die Gewalt des Eisens, das mächtiger sei als das Licht. Der atheistische Pfarrerssohn mobilisiert die von Kind auf erlernte protestantische Phraseologie zum Lobpreis der gottgesetzten Gewalt. Benn sieht ein neues Geschlecht von Künstlern heraufkommen, das endlich wieder eine geschichtliche, nämlich volkhafte Sendung hat. Der neue Staat erfordere eine heroische Literatur, die damit erstmals wieder zu einer Staatsangelegenheit ersten Ranges wird. Und doch entschlüpfen ihm, selbst noch in dieser Phase, die kritische Beobachter seine verkrampfte nannten, Wahrheiten, weil er den Modernen in sich nicht völlig verleugnen kann: „War nicht Kunst immer anarchisch, entartet, zuchtlos?“ fragt er plötzlich, und fügt hinzu: „Es gab doch wohl nie eine zivil und gepflegt entstandene Kunst, seit Florenz keine mehr, die unter dem beifälligen Gemurmel der Öffentlichkeit von irgendeiner anerkannten Baumart der Erkenntnis fiel. Kunst war in den letzten Jahrhunderten immer Gegen-Kunst.“ Muß nicht gerade dies, daß die Kunst zu einer Staatsangelegenheit allerersten Ranges wird, tödlich für sie sein? Benn atmete als Künstler erst wieder auf, als er sich vor dem neuen Staat und seiner Öffentlichkeit ins schützende Dunkel der Privatheit verkriechen konnte. Von seinem Ausflug in die monumentale Geschichte kehrt er ins Gedicht zurück: „Kein Trost aus der Geschichte/Die Unschuld fällt/Der Mord ergreift die Macht“. Gedichte sind unblutig, die Geschichte watet in Blut, und doch hat sie ein so unendlich viel höheres Prestige. Benn seinerseits fängt an, am Sinn der Geschichte zu zweifeln. National in der Form

Sozial im Inhalt

In einer Welt, in der Propaganda ein gesellschaftliches Gesamtkunstwerk mimt, in der nur noch das Monumentale zählt, dröhnende Musik, Massenchöre, Riesenfresken, kommt Poesie nicht mehr zu Wort, sowenig wie die unbegleitete menschliche Stimme mit ihren Nuancen, ihrer unverwechselbaren Intonation, ihren Pausen, ihrem Zögern und Drängen, ihrem Rhythmus, dem unverwechselbaren Rhythmus der Existenz. Während man 1937 über entartete Kunst und Literatur - ein Jahr später folgte, in Düsseldorf, die Ausstellung „Entartete Musik“ - bestens informiert war, gab es mit der arteigenen Kunst Probleme. Man erwartete sie sehnsüchtig, aber es gab sie nicht, und so griff man einfach auf drittrangige Klassikimitationen zurück. Bald schon wurde die Parole ausgegeben, allen Künstlern sei zu mißtrauen, selbst den nationalsozialistischen. „Der berufenste Künstler bringt noch nicht die Voraussetzungen mit, nationalsozialistischer Kulturpolitiker zu sein“, warnt etwa der unverdächtige (da als Künstler völlig unbegabte) Kulturpolitiker Hans Hinke. Zuverlässige Führer im Kulturkampf (sic!) könnten nur die im Erlebnis des Kampfes gestählten Berufspolitiker sein. Und er fährt fort: „Wir haben erlebt, um nur ein Beispiel zu nennen, daß einer der größten schaffenden Künstler, die wir heute haben, kulturpolitisch versagt hat, beziehungsweise versagen mußte, wo es darum ging, für die selbstverständlichen rassemäßigen Voraussetzungen auf einem speziellen Gebiet entscheidend einzutreten.“ Mit dem Gebiet war die Musik gemeint und mit dem schaffenden Künstler Richard Strauss, der sich das Libretto für seine komische Oper Die schweigsame Frau vom jüdischen Autor Stefan Zweig hatte schreiben lassen. Was für die Musiker gilt, selbst die mehr oder weniger opportunistischen, gilt kaum weniger für die bildenden Künstler. Ein gutes Beispiel ist Emil Nolde, den sein Parteibuch nicht vor der Ächtung als entarteter Künstler bewahrte. Vor allem aber gilt es für die Schriftsteller, von denen Klaus Mann stolz gesagt hat, sie hätten sich im Jahre 1933 besser bewährt als irgendeine andere Berufsklasse. „Die Zahl derer, die sich korrumpieren ließen, ist gering.“

Es liegt jedoch eine eigenartige Ironie darin, daß nicht wenige jener Künstler und Schriftsteller, die der Versuchung des faschistischen Monumentalismus entgangen sind, auf die sowjetische Kunstdiktatur hereinfielen. Auf dem bereits erwähnten Ersten Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur, an dem so bedeutende Geister wie Martin Anderson Nexö, Louis Aragon, Henri Barbusse, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Ilja Ehrenburg, Forster, Andre Gide, Aldous Huxley, Egon Erwin Kisch, Robert Musil, Andre Malraux, Heinrich Mann und Anna Seghers teinahmen, wird Stalin als Verteidiger der Kultur und als der Große Humanist gefeiert, ein Unisono, in dem nur wenige Gegenstimmen: Robert Musil, Aldous Huxley, Andre Breton als dissonant auffielen. Heinrich Mann lobt den sozialistischen Aufbau, der sich unter anderem darin zeige, daß eine Bäurin zur Professorin aufsteigen kann. Und Wolf Frank bekennt: „Mensch sein zu können“, mit diesem Ausspruch habe ihn Stalin mitten ins Herz getroffen. Der Däne Martin Anderson Nexö drückt seine tiefe Befriedigung darüber aus, daß die Schriftsteller und Künstler endlich ihr krankhaftes Selbststudium beenden werden, um sich zu Ingenieuren der Menschenseelen zu machen. Man feiert das historische Verschwinden des bürgerlichen Individuums. Selbst der kritische junge Paul Nizan, der wenig später seinen Irrtum einsah (was ihm die Denunziation als Spitzel durch Louis Aragon eintrug) ruft Stalin zum Kronzeugen des antifaschistischen Humanismus an. Der Wolf geht im Schafspelz einher. Stalin läßt sich als Freund und Gönner der Poesie verehren. Bereits der Schriftstellerkongreß in Charkow im Jahre 1931 war eine Manifestation der Stalin-Ära gewesen, wobei gewisse Parallelen der Sowjetästhetik zur faschistischen nicht zu übersehen waren. Den Eingang zum Kongreß zierte ein Ausspruch des Großen Vorsitzenden: „Die proletarische Literatur wird national sein in der Form und sozial im Inhalt.“ Man beachte das Futurum! Die proletarische Literatur war vorerst, ganz wie die arteigene Kunst der Nationalsozialisten, bloßes Desiderat. Sie wurde wie jene seit geraumer Zeit erwartet. Noch besaß jedoch, wie ein großer Nonkonformist der damaligen Zeit, Ossip Mandelstam, es ausgedrückt hat, die Wissenschaft kein Mittel, das Erscheinen erwünschter Schriftsteller auszulösen. Kaum war der Kongreß eröffnet, da marschierten auch schon die literarischen Abteilungen der Roten Armee und der Flotte auf. Die Delegierten erhoben sich von ihren Sitzen, langanhaltender Beifall. Fast die gesamte Sowjetliteratur, erklärt ein Festredner, sei letztlich aus den Reihen der Roten Armee hervorgegangen. Und der ehemalige Expressionist und nachmalige DDR-Kulturminister Johannes R. Becher rief begeistert aus: „Unterstützt uns, indem ihr das Epos des Fünfjahresplans schafft.“ Europäische Nacht

Wahrhaft groteske Formen aber nahm die offizielle Literaturpolitik an, als der Schriftstellerverband sich für die GPU und sogar für die Todesstrafe aussprach. Die GPU hatte nämlich soeben in Stalins Auftrag die Jagd auf die Spezialisten (Ingenieure, Mediziner) eröffnet, nach Walter Benjamin „die einzigen Bürger, die unabhängig vom politischen Aktionskreis noch etwas vorstellten“. Die Tscheka erfand Verbrechen, die dann mit dem Tode bestraft wurden, blutige Inszenierung, zu der die Literaturnaja Gazeta Beifall klatschte. Stalin suchte so viele Intellektuelle wie möglich zu kompromittieren, in seine repressive Politik hineinzuziehen. Es mag mit dem intellektualistischen Charakter des Regimes zusammenhängen, wenn man den Eindruck gewinnt, Intellektuelle und Künstler seien hier in noch abgründigerer Weise gedemütigt und verschlissen worden als im Nationalsozialismus. Nicht Ossip Mandelstam übrigens, der nie auch nur den geringsten Kompromiß mit der Macht einging und dafür nicht nur von der Macht, sondern auch von den offiziellen Schriftstellerorganisationen gejagt wurde, bis er schließlich gleichsam im Zweikampf mit dem Diktator unterlag, weil er ihn allzu treffend porträtiert hatte, „den unser Schrei im Schlaf uns nennt/Judas für die Völker der Zukunft“. Wie ein Alptraum muten die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts an: die von Stalin Verfolgten mußten erfahren, daß der Westen die westliche Kultur verraten hatte, und die von Hitler Verfolgten, die aufs Licht aus dem Osten hofften, wurden ihrerseits verhöhnt und betrogen: Europäische Nacht, wie Wladislaw Chodasewich sagte.

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Das Überleben von Kultur bleibt an das Überleben von Individualität gebunden. Der Prozeß der Umerziehung der Künstler durch totalitäre Systeme ist gescheitert. Dafür bot sich uns das deprimierende Schauspiel, daß der am höchsten organisierte Geist, der zugleich der labilste ist, sich wunderbar leicht demütigen und zerstören läßt. Der hervorbringende Geist hat nämlich ein elementares Bedürfnis nach Freiheit. Wo er auch nur den geringsten Zwang, die Spur einer Vorschrift erleidet, wird er krank. Nicht das Andersdenken ist krankhaft, wie man uns glauben machen wollte, sondern gerade das massenhaft gleiche Denken, das in unserem Jahrhundert wie eine Seuche um sich griff. Der Geist ist etwas Individuelles; es kann unmöglich zwei gleiche Geister, zwei gleiche Meinungen geben. Jeder hat seinen eigenen Kopf. Gruppen oder Parteien schüchtern den Geist nur ein und lähmen ihn. Eine denkende oder gar dichtende Gruppe ist ein Widersinn. Zwei haargenau gleiche Meinungen sind verdächtig. Sie sind nur Symptom dafür, daß der Prozeß der Einschüchterung oder der Ausschließung von Andersdenkenden bereits begonnen hat. Die sanktionierenden Kräfte, die in ihrer Domäne, der Domäne des Staates, eine durchaus legitime Ordnungsfunktion haben, haben in der Domäne des Geistes und der Kunst nichts zu suchen. Einschränkende polizeiliche Maßnahmen gelten immer nur für das Handeln. Sobald man Verbote ins Denken einführt, wird der Geist krank. Auf diesem Gebiet darf es nicht die geringste Beschränkung geben.

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Gekürzt aus: Stilstreit und Führerprinzip, Künstler und Werk in Baden 1930-1945. Katalog zur Ausstellung im Badischen Kunstverein Karlsruhe, 1987.