Mythos der Einsamkeit

Diethelm Knauf MYTHOS DER EINSAMKEIT

„Der Schrei der

Stille war wie

die Brandung

diamantener Wogen.“ (Jack Kerouac

Impressionen aus

der Sierra Nevada,

Kalifornien

An ihrer Ostseite erfror manch ein amerikanischer Siedlertraum vom kalifornischen Glück im Schnee und Eis der frühen Winterstürme. Die Siedler hatten da, wo sie herkamen, nur von den gefährlichen Rocky Mountains gehört. Die hatten sie überwunden, ihre Unkenntnis ließ sie dann nachlässig werden. Zu spät erreichten sie die steilen Hänge der Sierra Nevada, des höchsten Gebirgszuges der USA. Ihre Vorräte und ihre Kräfte waren erschöpft.

Widrige klimatische und geographische Verhältnisse - die High Sierra ist durchgängig über 1.000 Meter hoch, über 500 Berggipfel erreichen 3.500 Meter und mehr - verhinderten eine Inbesitznahme des Landes durch den weißen Mann. So blieb diese Region lange Indianer-, Trapper- und Frontierland - und konnte bis heute als eine der schönsten Naturlandschaften der USA erhalten werden. Dies trifft insbesondere auf ein Herzstück der Sierra Nevada, den Yosemite National Park, zu. Der Besucher des Yosemite Parks ist erst einmal baff ob soviel Natur und Schönheit. Es gibt kaum Worte, um das wildromantische Zusammenspiel von riesenhaften, blankliegenden, zerklüfteten Granitgipfeln, lieblichen Auen mit blauen Flußbändern, silbrig glänzenden Wasserfällen, in einem Meer von Blumen farbenprächtig leuchtenden Hochgebirgswiesen und durch sattgrüne Fichtenstämme gebrochenen Sonnenstrahlen, das Zusammenspiel von Licht und Schatten, Wald und Wiese, Fels und Schlucht angemessen zu beschreiben. * * *

Man fahre in der Abenddämmerung zum Glacier Point, einem Aussichtspunkt mit großartig-erhebendem Blick auf die Tallandschaft des Yosemite Valley. Es muß unbedingt die Abenddämmerung sein, denn dann kann man verfolgen, wie die untergehende Sonne ihr rotglühendes Licht an die nackten, abrasierten Zinnen der Berggipfel wirft, die aus dem Wald das Tal überragen..., und der Park-Ranger erzählt vom „Alpenglow“. Ein berührenderes Erlebnis habe ich selten gehabt. Der alte Beatnik und Rucksackgammler Jack Kerouac fand 1955 folgende Worte für dieses Naturerlebnis in der Sierra: „Es war schön. Das Zartrosa verschwand, und dann war alles purpurne Dämmerung, und der Schrei der Stille war wie die Brandung diamantener Wogen, die durch die flüssigen Pforten unserer Ohren brausen und einem das Gefühl geben: mehr brauchst du nicht, um die nächsten tausend Jahre ruhig und zufrieden zu sein.“ Inspiriert durch den Zen-Buddhismus entwarf Kerouac in seinem Roman The Dharma Bums die „Vision einer großen Rucksackrevolution“, die den Kreislauf der Konsumgesellschaft, das System von Arbeit, Produktion, Verbrauch durchbricht. Es war die Vision, das tausende junger Amerikaner mit Rucksäcken rumwanderten, „auf Berge gehen, um zu beten, (...) und die durch Freundlichkeit und auch durch seltsame, unerwartete Handlungen ständig jedermann und jeder lebenden Kreatur die Vision ewiger Freiheit vermitteln“. Entsprechend dieser Maxime läßt Kerouac die Protagonisten seines Romans handeln und ihre Erfahrungen beschreiben. So unternehmen sie im ersten Teil des Buches eine Wanderung auf den Matterhorn Peak in der Nordostecke des Yosemite Parks. Auf diese Weise kommen einige einfühlsame Naturbeschreibungen zustande, die zugleich Einblick in die Seelenwelt der Wanderer geben.

„Der Hang des grasüberwachsenen Hügels war wie mit uraltem Goldstaub bedeckt, die Käfer krabbelten über die Felsen, und der Wind strich in flimmernden Tänzen über das heiße Gestein.“ Manche Passagen sind mir zu sehr in Mystik und Religion verstrickt, manch andere zu gewollt verrückt oder ausgeflippt und manches ist nicht ganz ehrlich. Doch immer, wenn's um sinnliche Erlebnisse in der Natur geht, ist Kerouac einfach fesselnd. „Der Wald ist schuld daran, wenn dir so zumute ist. Er sieht immer vertraut aus wie etwas längst Verlorenes, wie das Gesicht eines vor langer Zeit gestorbenen Verwandten, wie ein alter Traum, wie der Fetzen eines vergessenen Liedes, der über Wasser treibt, und vor allem wie die goldenen Ewigkeiten einer vergangenen Kindheit und vergangener Mannesjahre.“

An anderer Stelle erzählt einer der Wanderer begeistert von John Muir, wie der die Berge hochkletterte, nur mit seinem alten Militärmantel und einer Papiertüte mit getrocknetem Brot, er schlief in seinem Mantel und weichte das Brot in Wasser auf, wenn er etwas essen wollte, so trieb er sich monatelang herum, ehe er wieder in die Stadt, die bei Kerouac für Konsum, Zivilisation, Entfremdung steht, zurücktrampte.

Das Idol John Muir war Trapper, Entdecker, Forscher und früher Ökologe. Er setzte sich für die Gründung von Naturschutzgebieten, den National Parks, ein und wurde für ausgedehnte Forschungsreisen unter anderem auch im Westen der USA bekannt. Im Zuge einer solchen kam er 1868 ins Yosemite Valley. Ursprünglich wollte er nur zwei Jahre bleiben, war aber von der Landschaft so beeindruckt und von den Forschungsfeldern der Wälder, Gletscher und Gesteinsformationen so fasziniert, daß daraus 40 wurden, sagt Kerouac. * * *

Der erste Weiße, der Yosemite zu Gesicht bekam, war er dennoch nicht, sondern der Trapper und Goldsucher William Abrams, den im Jahre 1849 während des kalifornischen Goldrausches ein verwundeter Grislybär in das Tal des Merced River führte. Möglicherweise war aber auch der Trapper Joseph Walker auf einer seiner Expeditionen in die Sierra vor ihm da. 1833 soll er die Wälder der Giant Sequoias, der berühmten Redwood-Bäume, an den Flüssen Merced und Tuolumne entdeckt haben. Diese Haine sind heute nicht mehr zu besichtigen, Eisenbahnbau, Erzbergbau, Holzhandel und -industrie sorgten für rasche Abholzung, obwohl die Stämme recht widerborstig waren. Man benutzte Dynamit, um die Bäume in handliche Stücke zu zerlegen, die auf Wagen und unter Sägemühlen paßten. So wurden über 80 Prozent des Holzes nutzlos verschwendet. Glücklicherweise gelang es engagierten Naturschützern schon 1864, Yosemite unter Naturschutz stellen zu lassen. Heute findet man noch eine stattliche Anzahl Sequoias im Mariposa Grove im Nordwesten des Parks und tatsächlich - believe it or not - kann man mit dem Auto durch einen Stamm hindurchfahren. 1881 wurde sogar ein Tunnel für den Zug durch den Wawona Tree gesprengt. Leider ist der 1969 umgefallen. * * *

Wie überall in Amerika waren auch in Yosemite die Weißen Abrams und Walker nicht die ersten Entdecker und Besiedler. Vor zirka 4.000 Jahren ließen sich hier die Ahwahneechees nieder, die zum Stamm der Miwok gehören. Völker der Miwok lebten überall an den Westhängen der Sierra. Ahwahneechee bedeutet „die Leute aus dem tiefen, grünen Tal“. Auch der Name Yosemite ist aus ihrer Sprache und heißt Grislybär. Die Geschichte der Ahwahneechee ist die leidvolle Geschichte der indianischen Völker Amerikas. 1851 verfolgte das Mariposa -Bataillon der U.S. Army flüchtende Miwoks unter Häuptling Tenaya in das Yosemite Valley. Wie so häufig sind die genauen Vorkommnisse ungeklärt. Den Indianern wurde vorgeworfen, Bergwerkscamps überfallen zu haben. Chief Tenaya und seine Gefolgsleute wurden gefangen genommen und in die Fresno River Reservation gebracht im Nordosten der heutigen Stadt Fresno. Die weiteren Geschehnisse sind unklar, jedenfalls kehrten die Indianer später wieder nach Yosemite zurück. Die Parkverwaltung hat ein Ahwahneechee -Dorf aus dem Jahre 1872 anlegen lassen, das zur Besichtigung zur Verfügung steht. Der Besucher kann/soll so „living history“, Geschichte lebendig erfahren. Die Verantwortlichen gingen von einem Konzept des Kulturwandels aus. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft beträfen auch die indianische Kultur. So werden in dem Dorf etwa traditionelle Behausungen gezeigt, zum Beispiel die u-mu-cha, ein Tipi aus Baumrinde, aber auch Bretterbuden, die auf weiße Einflüsse verweisen. Rituelle Totems sind zu sehen, ebenso wie Bade und Initiationshäuser. Nachfahren der Ahwahneechee führen originale Arbeiten vor, bereiten Nahrung, weben Kleidung, fertigen Waffen an - alles sehr interessant, nur wird man das Gefühl nicht los, daß die Indianer mit ausgestellt sind. * * *

Touristen kamen bereits 1855 zum ersten Mal nach Yosemite, eine kleine Gruppe von fünf Engländern, die noch Schwierigkeiten hatte, indianische Führer zu finden. Wie schön das Tal war, sprach sich allerdings schnell herum. 1859 rief der konservative Journalist Horace Greeley aus: „Ich weiß von keinem einzigen Wunder der Natur auf Erden, das Yosemite überlegen wäre!“ In jenen Tagen war die Reise nur unter etlicher Mühsal möglich. Von San Fracisco etwa würde man zunächst einen Dampfer nach Stockton nehmen, dann mit der Kutsche über beschwerliche Wege rumpeln. Ein Besucher erzählte 1870, daß man einen Zaun zwei Meter hinter der Kutsche vor lauter Staub nicht sehen konnte. Schließlich brachte einen der Rücken des Pferdes über steile Trampelpfade in das Tal. Aber alle touristischen Zeugnisse sind einhellig der Meinung, daß sich die Anstrengung gelohnt habe. Besucher jedoch brauchen Essen und einen Platz zum Schlafen, und so entwickelte sich alsbald eine touristische Industrie. Heute befinden Puristen ganz richtig, daß der Asphalt und der Verkehr im Yosemite Valley nicht das „real thing“ sind. An sommerlichen Feiertagen, etwa dem 4.Juli, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung, wird Yosemite Valley so etwas wie Los-Angeles-in-the-wilderness. Über 700 Meilen Backcountry-Wanderwege gibt es im Park, hauptsächlich im Gebiet der Tuolumne Meadows und um das Happy Isles Nature Center herum. Absolute Naturfreaks gehen „backpacking“, alles, was sie zum Leben brauchen (Essen, Wasser, Schlafsack, Zelt...), packen sie in den Rucksack und sagen der Zivilisation ade. Dazu braucht man eine „wilderness permit“ von einer Ranger-Station, die auch die Wandergegend festlegt und Vorschriften, zum Beispiel über Feuermachen, enthält. Der sanftere Weg ist der: Man läßt sich auf einem Camping-Platz nieder, nicht im Valley, sondern außerhalb, beispielsweise auf dem White Wolf Campground, etwas abseits der Tioga Road, versorgt sich mit Kartenmaterial und stellt sich Tagestouren zusammen. Der Vorteil ist der einer abendlichen Dusche und einem sicheren Kopfkissen, der Nachteil, daß man nicht so weit herumkommt. * * *

Die Sierra Nevada sei das Gebirge des Lichts, heißt es. Der Landschaftsfotograf Ansel Adams hat Yosemite porträtiert, von seinen Aufnahmen sagt man, sie machen die Poesie des Lichts sichtbar. In der Tat, sie sind unheimlich, beeindruckend, anziehend, faszinierend, wie die Landschaft selbst. Sie strahlen düstere Mystik aus, und eine Atmosphäre dunkler Geheimnisse umfängt den Betrachter. Die Welt, die sie zeigen, ist dem Bereich gewöhnlicher menschlicher Lebenserfahrung entrückt. Adams ist der kompromißlose Verfechter der „wilderness idea“ (nur Natur, keine Menschen), seine Fotos sind die Visualisierung des unbefleckten Westens, einem zutiefst amerikanischen Mythos, der das Selbstgefühl einer Nation mitgeformt hat und dessen Ursprung man in den Weiten der Einsamkeit der Sierra nachvollziehen kann.