Theorie und Praxis

Zwei Tenniswege, deren Protagonisten Boris Becker und Ivan Lendl sind, führen ins Finale der Australian Open  ■  PRESS-SCHLAG

Theorie und Praxis, welche frei praktizierenden Linken hätten damit nicht ihre ganz eigenen Erfahrungen. Recht leidvolle oft. Und jetzt also auch noch Boris Becker.

Es ist eben nicht so, wie wir uns das vor dem Fernseher immer vorstellen: daß da zwei rausgehen auf den Platz, bereit und fit bis in die letzte Muskelfaser, die letzte Gehirnzelle. Ganz wie es die US-amerikanischen Leichtathleten in Seoul immer erzählten: „I go out and give my best.“ Womit sie auch ganz gut gefahren sind.

Das deutsche Tennis-As pflegt da einen ganz anderen Ansatz. Für ihn sei es, dozierte Becker zu Beginn der Australian Open, nicht möglich, in jedem Spiel Tennis vom Feinsten zu zeigen. Schon gar nicht in einem Turnier, das sich zwei Wochen hinziehe und im Falle einer Finalteilnahme sieben Matches erfordere. Deshalb verfahre er folgendermaßen: Am Anfang nicht optimal spielen, aber gewinnen, um im Finale dann sozusagen einen „Leimener Grand Cru“ zu kredenzen. Natürlich berge das Umsetzen dieser Theorie gewisse Gefahren in sich, räumte Becker ein, die nämlich, bei der schmalen Gratwanderung zwischen „schlechtem Spiel und trotzdem gewinnen“ plötzlich auf die falsche Seite zu rutschen. Dieses Risiko jedoch sei er gern bereit zu tragen.

Andere denken da anders. Ivan Lendl zum Beispiel ist eher ein Freund davon, „schon im ersten Spiel ein hohes Niveau zu erreichen und dann die Form zu halten“. Die Becker-Theorie sei nichts für ihn, aber der Mats Wilander, der sei ja auch so einer, der könne ein paar richtige „shitty“ Matches hinlegen und dann plötzlich grandios auftrumpfen. Wobei Wilander in Melbourne einmal zu shitty spielte und als erstes Opfer der Becker-Theorie verbucht werden muß.

Boris und Ivan hingegen liegen beide noch voll auf Linie. Becker spielte in den ersten beiden Runden solide, glanzlos und erfolgreich, und ging erst dann beim 6:0, 6:1, 6:2 gegen den Kanadier Chris Pridham ein wenig aus sich heraus. Lendl zog gegen die beiden Deutschen Mronz und Steeb gleich voll vom Filz, derart, daß Alexander Mronz vor Bewunderung nach Worten rang, und Lendl „zwei Klassen besser“ einstufte als Agassi und Edberg, gegen die er ebenfalls schon mal verloren hat. Ganze vier Fehler in drei Sätzen seien dem Tschechoslowaken unterlaufen, und er selbst habe die „unglaublichsten Schläge“ vollführen müssen, um überhaupt einen Punkt zu machen. Und Carl-Uwe („call me Charly“) Steeb nutzte das ganze beim Davis Cup gewonnene Selbstvertrauen nichts gegen einen ob seiner hundertprozentigen Planerfüllung humorig aufgelegten Lendl.

Bei den Frauen wird das taktische Schisma unter anderem von Steffi Graf und Claudia Kohde-Kilsch verkörpert. Während Graf in Rekordzeiten ihre Gegnerinnen vom Platz fegt, ist es für Kohde-Kilsch Ehrensache, stets einen Satz abzugeben. Beide treffen am Dienstag im Viertelfinale aufeinander.

Der Theoriestreit geht also weiter in Melbourne, und sollten Becker oder Lendl vorzeitig widerlegt werden: wichtig ist letztlich die eigene Überzeugung. Ein Trost, der anderen auch schon geholfen hat.

Thömmes