Sexuelles Selbstbestimmungsrecht siegt

HIV-Infizierter wird erneut freigesprochen / Seine Freundin wollte ohne Kondom mit ihm schlafen / Zweite Schlappe für Staatsanwalt in Musterprozeß / Gericht wertet ungeschützten Geschlechtsverkehr als Selbstgefährdung  ■  Aus Kempten Luitgard Koch

„Freispruch?“ Der 30jährige Franco Pietro G. kann es immer noch nicht fassen. Ungläubig steht der gelernte Mechaniker vor den Toren der altehrwürdigen Fürstabtei, in der das Kemptener Landgericht residiert. Es ist kurz nach sechs Uhr abends. Vor wenigen Minuten haben die Richter der Zweiten Strafkammer den Urteilsspruch verkündet. „Kann mir jetzt nichts mehr passieren?“ will der gebürtige Mailänder von seiner Verteidigerin Hörster wissen. Sie beruhigt ihren Mandanten, dessen Zweifel verständlich sind; schließlich hat der Allgäuer Staatsanwalt Nagel den Italiener schon zum zweiten Mal wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung vor Gericht gezerrt. Grund: Franco G. hatte trotz seiner HIV -Infizierung ohne Kondom mit seiner Freundin Solveig H. geschlafen. Doch die damals knapp 17jährige Gymnasiastin aus Oberstdorf wußte von seiner Krankheit. Sie war es, die Kondome ablehnte.

Abgeschirmt von der Öffentlichkeit, verläßt die 18jährige Frau nach der über einstündigen Vernehmung den Gerichtssaal durch eine Hintertür. Seit der Polizeichef von Sonthofen, Riepl, den Fall Anfang vergangenen Jahres ins Rollen brachte, sind der Frau die Medien auf den Fersen. Elternhaus und Schule wurden von Reportern belagert.

Vor der Ausländerbehörde, die dem jetzt Freigesprochenen wegen Drogendelikten mit Abschiebung drohte, erzählte Franco G., daß er seine Freundin Solveig heiraten wolle. Den Beamten war seine HIV-Infektion bekannt. Polizei und Staatsanwaltschaft schalteten sich ein. Denn schließlich ist in Bayern nach dem Aids-Maßnahmekatalog „das bewußte oder fahrlässige Infizieren als schwere Straftat mit Nachdruck zu verfolgen“. Doch Solveig H. war und ist nicht infiziert. Das hat jetzt ein dritter Test bewiesen, dem sie sich vor wenigen Wochen freiwillig unterzogen hatte.

Staatsanwalt Nagel stellt sein hölzernes Rednerpult auf. Mit abgehackten Sätzen beginnt der 49jährige sein Plädoyer. „Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz“, schmettert der Mann, der demnächst Landgerichtspräsident - in Memmingen werden soll, in den Saal. Die Forderung der Schülerin nach Sex ohne Kondom bezeichnete Nagel als Zeichen einer sexuellen Verfallenheit. Offenbar sei sie, so Nagel, wegen „nicht beherrschter Lustfähigkeit“ eingeschränkt gewesen. Mit dem Sprichwort versucht der Hardliner zu beweisen, daß die Zeugin Solveig zwar selbstbewußt sein mag, wie ihr Deutschlehrer bestätigte, aber trotzdem unwissend. Denn nur so kann er „das junge Ding“ zum Opfer stempeln, dessen Einverständnis nichtig ist. Und nur so wird FrancoG. zum strafrechtlich relevanten Täter. „Das eigentliche Problem des Prozesses ist die Einwilligung.“

Die Justiz befindet sich mit diesem Musterprozeß auf juristischem Neuland. Auch das Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs (BGH) von Anfang November vergangenen Jahres, nach dem ungeschützter Sex von HIV-Infizierten grundsätzlich strafbar sei, kann hier nicht einfach übertragen werden. Denn die homosexuellen Sexualpartner des HIV-infizierten LinwoodB., dessen Fall der BGH entschied, wußten nichts von dessen Infizierung. Außerdem sei „allgemein bekannt, daß mehr Wissen nichts mit mehr Reife zu tun hat“. Aber auch falls die Einwilligung wirksam sei, müßte G., so der Staatsanwalt, seiner Meinung nach bestraft werden, da die Tat sittenwidrig sei. „Die Zeugin hatte mit 16 Jahren bereits drei Partner“, empört sich Nagel. Die heutige Zeit billige den 16jährigen zwar Geschlechtsverkehr zu, aber ob das moralisch vertretbar sei? Nagel bezweifelt es. „Auf was verzichtet sie denn, wenn sie Kondome nimmt? Auf etwas mehr Lust, ich muß es schon einmal deutlich sagen“, ereifert sich Nagel, selbst Vater einer 17jährigen Tochter. Moralisch sauber und rechtlich unangreifbar wird „die Tat“ dagegen seiner Meinung nach nur „in der Ehe“.

In seinem Strafmaß läßt er plötzlich scheinbar Gnade vor Recht ergehen und fordert für den arbeitlosen Angeklagten eine Haftstrafe von insgesamt sieben Monaten auf Bewährung. Bereits am ersten Verhandlungstag hatte Nagel erklärt, daß ihm nicht die Höhe der Strafe wichtig sei, sondern eine grundsätzliche Verurteilung. „Ich will ein Zeichen haben“, gab er zu. Des weiteren ist für ihn die Gefahr gebannt, da SolveigH. sich von ihrem Freund, der ja bereits „weiß, wie es hinter Kerkermauern aussieht“, getrennt hat. Und: „So eine Dumme wie Solveig H. wird er nicht so schnell wieder finden.“

Doch Staatsanwalt Nagel kann weder die Richter noch die beiden Schöffen von der Dummheit und Opfermentalität von SolveigH. überzeugen. Vielmehr schließen sie sich der Meinung der Verteidigung an. „Der Angeklagte hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, daß sie die Tragweite ihres Tuns nicht erkennen könne“, stellt Verteidigerin Brigitte Hörster fest. Und der Frankfurter Rechtsanwalt Cobler ergänzt, daß FrancoG. „lediglich ihre bewußte Selbstgefährdung ermöglicht“ habe. Des weiteren verweist der Verteidiger darauf, daß insbesondere das Sexualstrafrecht vom Selbstbestimmungsrecht bestimmt sei. „Wir dürfen nicht den Fehler machen, eine für uns schwer verständliche Meinung zum Gegenstand einer strafrechtlichen Bewertung zu machen“, warnt Cobler in seinem Plädoyer.

Mit Spannung warten die Presse und einige wenige Zuschauer nach eineinhalbstündiger Beratung auf das Urteil. „Die Initiative ging von ihr aus. Er wollte nur den geschützten Geschlechtsverkehr mit Kondomen“, begründet der Vorsitzende Richter Reichart den Freispruch und spricht von „Selbstgefährdung“. Das Mädchen „war sowohl vom Wissensstand wie auch von der Reife her durchaus in der Lage, die Gefahren durch ungeschützten Geschlechtsverkehr abzuschätzen“, so die Kammer. Indem die 16jährige auf ihrem Wunsch beharrt habe, habe sie eigenverantwortlich die Entscheidung für ihre Gesundheit getroffen. Der Richter bezeichnete es als verfehlt, grundsätzlich den Mann oder einen HIV-Infizierten als aktiveren Part in einer sexuellen Beziehung anzusehen. Beide Partner seien in freier Selbstbestimmung „Herr des Geschehens“. Bereits vor dem Prozeß hatten die Ankläger Revision beim Bayerischen Obersten Landesgericht angekündigt, falls G. freigesprochen werde.

Staatsanwalt Nagel verläßt enttäuscht den Gerichtssaal. Er hat nicht nur vor dem Landgericht eine Schlappe erlitten. Bei einem weiteren Aids-Prozeß - Nagel klagte auf versuchten Totschlag - hat das Kemptener Schwurgericht es abgelehnt, die Verhandlung zu eröffnen.