Vom Nachttisch geräumt: KATASTROIKA

Alexander Sinowjew, spätestens seit „Gähnende Höhen“ einer der bekanntesten russischen Autoren, seit langen Jahren in München lebend, hat eine Streitschrift gegen „Gorbatschows Potemkinsche Dörfer“ geschrieben. Trotz des gelungenen Titels „Katastroika“ ein schlechtes Buch. Wer eine nüchterne Bilanz der Taten und Untaten des sowjetischen Reformers erwartet, facts and figures, wird ebenso enttäuscht werden wie die Freunde des temperamentvollen Pamphlets, der schwungvollen Attacke. Den Leser erwartet keine Registerarie, sondern eine nörgelnde Litanei. Daß Sinowjew der Entwicklung hinterherbellt, daraus ist ihm kein Vorwurf zu machen. Schließlich überschlagen sich sich, wenn man der Presse glauben darf, die Ereignisse in der Sowjetunion. Daß er aber so tut als gäbe es überhaupt keine Veränderungen, das macht das Buch ganz und gar unerträglich. Er enttarnt die Gorbatschowschen Reformen nicht, zeigt nicht, daß hinter den Attrappen nichts Neues steht, sondern schäumt drauflos. Seinen bewunderswerten Verstand hat Sinowjew abgeschaltet. Wie anders kann man Widersprüche wie diese erklären: „Das sowjetische Regierungs- und Verwaltungssystem ließe sich in der Tat um einiges verbessern. Damit die Verbesserungen aber nicht nur scheinbar und vorübergehend sind, gilt es als erstes, die ideologischen und propagandistischen marxistischen Märchen über Bord zu werfen und eine objektive wissenschaftliche Analyse des sowjetischen Gesellschafts und Regierungssystems vorzunehmen. Dann wird man nicht umhin können, vieles, was bisher als Verleumdung des sowjetischen Gesellschaftssystems gilt, einzugestehen und den Charakter dieses Systems zu offenbaren. Dazu gehört in der Tat großer geschichtlicher Mut. Wenn die Gorbatschow-Führung ihn aufbringen würde, käme ihr schon allein deshalb ein herausragender Platz in der Geschichte zu. Aber ob sie dazu fähig ist? Nein! Niemals und unter keinen Umständen wird eine Sowjetregierung sich zu diesem Schritt entschließen können. In dieser Hinsicht bildet auch die Gorbatschow -Regierung keine Ausnahme.“ So klar und so deutlich auf Seite zweiunddreißig. Aber schon fünf Seiten weiter liest man das exakte Gegenteil: „Neu an der derzeitigen Situation ist die Tatsache, daß es Vertreter aus den höchsten Rängen der Sowjetführung sind, die Zweifel an den Idealen des Kommunismus und an den spezifisch kommunistischen Methoden zur Organisation und Verwaltung des gesellschaftslebens äußer. Es würde mich nicht wundern, wenn sowjetische Dissidenten und Regierungsvertreter ihre Rollen tauschten, wenn Dissidenten auftauchten, die die Gorbatschowler der Abweichung von den Idealen des Kommunismus bezichtigen und auf der Wiederherstellung der kommunistischen Normen bestünden.“ (S.37f.) Wie ernst ist ein Autor zu nehmen, der sich selbst so wenig ernst nimmt? Dieses Buch ist Sinowjews Katastroika.

Alexander Sinowjew, Katastroika, Ullstein-Verlag, 208 Seiten, xxxxxxx DM