„Die jungen Leute verlangen Erneuerung“

Der ehemalige tschechoslowakische Ministerpräsident Alexander Dubcek zur aktuellen Situation in der CSSR  ■ I N T E R V I E W

„Wer im Besitz der Macht ist, hat gut reden. Doch die Gründe für all das, was derzeit passiert, liegen nicht in irgendwelchen ausländischen Einmischungen, sondern bei uns zu Hause.“ Die Worte Alexander Dubceks sprudeln geradezu aus dem Telefonhörer; in seiner Stimme liegen Bitterkeit und Entrüstung. „Wenn man die Hintergründe nicht klarlegt, wird man überhaupt nichts ausrichten.“

Was heißt das konkret?

Alexander Dubcek: Es gibt da eine grundlegende Krise, die vor allem unsere Jugend betrifft. Die Zwanzigjährigen, die „Kinder des Prager Frühlings“ und des „Prager August“, sehen keine Perspektive. In der Schule lernen sie Dinge, die im Widerspruch stehen zu dem, was sie um sich herum sehen. Über 1968 lehrt man sie allerhand, was dann zu Hause oder von Freunden „korrigiert“ werden muß. Man kann sagen, daß da eine Etappe unserer Geschichte vor zwanzig Jahren regelrecht eingefroren wurde. Die jungen Menschen von heute verlangen nach Dialog, wollen Fragen stellen, aber keiner hört ihnen zu.

Worauf beziehen sich deine Worte hinsichtlich der Perspektiven? Kann es konkrete Vorschläge dazu geben? Wenn ja, welche und für wen?

Ich glaube, daß dies nicht das Problem ist. 1968 haben wir Lösungen für unsere Probleme gesucht, und das hat man uns verwehrt. Zu den sich immer mehr verschärfenden brennenden Problemen von damals sind aus den beiden letzten Jahrzehnten neue hinzugekommen, die speziell die jungen Menschen angehen. Man muß eben in der Unzufriedenheit und im Willen, den derzeitigen Stand der Dinge zu verändern, den wahren Grund dazu suchen, was in diesen Tagen passiert. Die jungen Leute verlangen nach einer Erneuerung, wie sie derzeit in der Sowjetunion geschieht, und zwar zu allererst hinsichtlich der Partei selbst.

Soweit mir bekannt ist, wird ja gerade ein Parteiprogramm ausgearbeitet, das dann auf dem nächsten Kongreß diskutiert werden soll; man spricht von einer Wirtschaftsreform...

Wir hatten doch 1968 ein Programm, und das hatten tatsächlich alle Tschechoslowaken zusammen erarbeitet. Das haben sie bis heute völlig untergraben. Und nun sagen sie, daß es da ein Programm geben wird, allerdings erst in ein paar Jahren. Inzwischen aber können die Unzufriedenheit, die Not und die Krise nur wachsen.

Das Problem ist für dich also politisch, und genau da muß man etwas tun?

Sicher. Die Krise der tschechoslowakischen Gesellschaft ist auf diese Frage zurückzuführen. Es ist nur eine politische Lösung denkbar, und erst danach kann man dann auch die übrigen Probleme angehen: die wirtschaftliche Stagnation wurzelt in der kulturellen.

Aus der italienischen Tageszeitung 'L'Unita';

Übersetzung: Werner Rait