Reform in der CSSR ohne Demokratisierung

Prager Führung versucht mit Reformpolitik, die Produktion anzukurbeln / Tiefergehende Veränderungen im Land werden verhindert / Partei und Regierung lehnen den Weg Polens und Ungarns ab / Opposition fordert vor allem Pluralismus, Meinungs- und Pressefreiheit  ■  Von Klaus Bachmann

Berlin (taz) - Als das Agrokombinat Slusovice 1952 gegründet wurde, war es bettelarm. Inzwischen ist es so reich geworden, daß man es anfänglich sogar für Journalisten sperrte. Jetzt, im Zeitalter der Perestroika, ist auch wirtschaftlicher Erfolg in der CSSR kein Makel mehr Slusovice wurde zum Vorzeigebetrieb für die „Preslavba“, die tschechoslowakische Perestroika, und die Journalisten, die heute mit Bussen aufs Land gekarrt werden, bekommen auch zu sehen, worauf der Erfolg beruht: Im Grunde herrschen in Slusovice fast kapitalistische Zustände, von der Arbeitsdisziplin angefangen bis zu den Löhnen. Die Arbeiter werden umsorgt, von ansonsten in der CSSR unerschwinglichen Sozialleistungen verwöhnt, von Auslandsreisen und Urlaubsorten angefangen bis zum Luxusladen, der auch nachts geöffnet hat. Nur eines fehlt: Mitbestimmung. Wer die Spruchbänder an Häusern und Betrieben in der CSSR liest, wer die Parteizeitung 'Rude Pravo‘ durchblättert, der muß zwangsläufig zu dem Schluß kommen, Perstroika lasse sich auf die einfache Formel reduzieren „mehr und besser arbeiten“.

Seit Mitte vergangenen Jahres ist ein neues Betriebsrätegesetz in der CSSR in Kraft, das die Demokratie am Arbeitsplatz vorantreiben soll. Doch demokratisch ist daran wenig, sieht man davon ab, daß die Räte demokratisch von der Belegschaft gewählt werden. Dabei können die Arbeiter allerdings keinen Kandidaten selbst vorschlagen, sondern nur zwischen solchen wählen, die von oben vorbestimmt werden. Und schon hat das Zentralkomitee der KPC eine interne Anweisung herausgegeben, wonach 60 Prozent der Mitglieder in den Selbstverwaltungsorganen „Kommunisten“ sein müssen. Doch selbst wenn die Partei dies nicht durchsetzen könnte - die Betriebsräte blieben auch so Papiertiger. Das Gründungsorgan (der Staat) kann jeden Beschluß eines Betriebsrats verwerfen. In der Opposition wird das neue Gesetz daher eher kritisch beurteilt. „Es hat einen Fall gegeben, in dem der einzige Kommunist des Betriebes nicht in den Rat gewählt wurde. Daraufhin wurden die Wahlen für ungültig erklärt und mußten wiederholt werden“, schrieb die Untergrundzeitschrift 'Lidove Noviny‘. Zugleich hätten die Wahlen aber auch dazu geführt, daß die Beschäftigten mehr und mehr ihre Angst am Arbeitsplatz verlören und mutiger ihre Meinung sagten. Die „Prestavba“ steckt in einem grundsätzlichen Dilemma: Einerseits fordert sie mehr Engagement von den ArbeiterInnen, andererseits gewährt sie keine grundlegende Mitbestimmung. Allein mit „besserer Arbeit“ lassen sich die Ziele der Reform nicht erreichen. Slusovice ist nicht nur deshalb erfolgreich, weil die Arbeiter dort 200 Kronen mehr verdienen als anderswo und härter arbeiten, sondern weil dort auch Tüftler, Erfinder und Spezialisten eine Möglichkeit haben, zu Wort zu kommen.

In der Opposition stehen daher denn auch kaum materielle Forderungen auf der Tagesordnung. In der CSSR gibt es für die 3.000 Kronen Durchschnittseinkommen ein relativ reichhaltiges Warenangebot. Und gemessen am Nachbarn Polen, verdient ein Prager drei- bis viermal mehr als ein Warschauer. Das ist, so Oppositionelle, der Hauptgrund der wenigen politischen Proteste in der Arbeiterschaft.

All jenen aber, die sich für „Politik“ interessieren, ist klar, daß der tschechoslowakischen Perestroika-Variante eine wesentliche Komponente fehlt: die Demokratisierung und „Glasnost“. Und um diese zwei Punkte geht es auch in der Opposition in der CSSR. Besonders die „Bewegung für bürgerliche Freiheit“, im Tschechischen HOS abgekürzt, unterstreicht diesen Punkt: „Es ist höchste Zeit“, heißt es im HOS-Gründungsmanifest, „daß die Gesellschaft selbst die politische Bühne betritt, das heißt, daß wir alle uns einmischen.“ Mit den Forderungen nach Zulassung verschiedener Eigentumsformen in der Wirtschaft (Genossenschaften, Privatbetriebe, Arbeiter -Selbstverwaltung) ist HOS bisher am weitesten gegangen. Politischer Pluralismus wird gefordert, unabhängige Gewerkschaften, Meinungs- und Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Das meiste davon ist für die Partei unannehmbar. Und vor allem an einem Prinzip wird eisern festgehalten: „Der Privatbesitz von Produktionsmitteln ist ausgeschlossen“, erklärt Svatopluk Smutek, Wirtschaftskommentator von 'Rude Pravo‘. Redakteur Smutek läßt auch keinen Zweifel daran, daß man in der KPC nicht daran denkt, Ungarn oder Polen nachzueifern. Die Reform wird sich auf Reformen innerhalb des staatlich gelenkten Wirtschaftssytems beschränken, und sie wird von der „führenden Kraft des Landes“, der KPC, allein durchgeführt werden. Für eine Opposition, grenzt sich 'Rude Pravo‘ eindeutig von Polen ab, ist dabei kein Platz. Eine Diskussion über Grundsätzliches, über Probleme, die über die rein technischen Details der Reform hinausgehen, findet in der offiziellen Presse auch praktisch nicht statt. Wer sich dafür interessiert, muß Untergrundzeitschriften lesen. Sinn und Zweck der Operation ist, erklärt Jiri Hajek, während des Prager Frühlings Außenminister, heute Mitglied der Charta77, so: „Es ist der Versuch, sich formal zu Gorbatschows Reformpolitik zu bekennen und gleichzeitig tiefere Veränderungen im Land zu verhindern.“ Grund: Die Führung sieht sich doppeltem Druck ausgesetzt; nicht nur der Opposition, sondern es gibt Anzeichen, daß man in Moskau mit der Prager Führung unzufrieden ist.

Die CSSR wickelt 45 Prozent ihres Außenhandels mit der Sowjetunion ab. Und will man dessen Qualität verbessern, wird es nicht genügen, nur rhetorische Änderungen einzuführen. Doch selbst was die wirtschaftliche Kompetenz der derzeitigen Führung angeht, ist Jiri Hajek skeptisch: „Die haben in den letzten 20 Jahren ja keinen an die Hebel gelassen, der dazu fähig wäre.“ Die derzeitige Strategie, so meinen andere Oppositionelle, ziele darauf, politische Probleme mit begrenzten wirtschaftlichen Veränderungen zu lösen. „Oder sie vor sich herzuschieben“, meint der Bürgerrechtler Martin Palous.