Die weiche Uhr tickt nicht mehr: Gestern starb in Katalonien der Maler Salvador Dali im Alter von 84 Jahren

Ein Genie stirbt nicht“, hatte Dali noch auf dem Krankenbett philosophiert, maßlos und größenwahnsinnig wie in seinen besten Tagen. Nun hat es ihn erwischt, das Versagen des Herzens bescherte ihm einen nach Auskunft der Ärzte „sehr sanften Tod“.

Seit 1982, dem Todesjahr seiner Frau und Muse Gala, die er 1929 dem Surrealisten-Kollegen Paul Eluard ausgespannt hatte, hatte Dali kaum noch gearbeitet, seine letzten Jahre verbrachte er in Depression und körperlicher Hinfälligkeit zuletzt im „Galatea-Turm“ in seiner katalanischen Heimatstadt Figueras, der Teil seines Museums ist. Im Kuppelsaal dieses Museums wird er am Mittwoch beigesetzt.

„Bin ich ein Genie?“ Mit dieser Frage beginnt Dali seine Autobiographie und beantwortet sie selbstverständlich mit „Ja!“. In Das geheime Leben des Salvador Dali (1984 auf deutsch in München erschienen) skizziert er, wie er Ende der zwanziger Jahre die Gruppe der Surrealisten im Sturm eroberte, Paris (Picasso, Miro und andere) „in den Sack steckte“ und zum Schrittmacher der Avantgarde wurde. Der mit Luis Bunuel 1928 gedrehte Film Le chien andalou hat für Dali „den gewünschten Erfolg: An einem einzigen Abend machte unser Film ein Jahrzehnt pseudo-intellektuellen Nachkriegs -Avantgardismus zunichte. Diese Gemeinheit, die man so konkret abstrakte Kunst nennt, fiel uns tödlich verwundet vor die Füße... Es war kein Platz mehr in Europa für die manischen Rechteckchen von Herrn Mondrian.“

Der vor Selbstbewußtsein und Hingabe strotzende Dali bezeichnete sich selbst als „ehrgeizigsten aller zeitgenössischen Maler“, und ein solcher kann es in einem Verein naturgemäß nicht lange aushalten. Sei es nun eine Kunstakademie, von der er 1926 flog, oder die Gruppe der Surrealisten, die er mit ihren eigenen Waffen schlug. Zwar ließ er sich in seiner Malerei von Max Ernst, Hans Arp, Yves Tanguy und Miro beeinflussen, griff den von diesen und anderen konzipierten Surrealismus als „Eroberung des Irrationalen“ auf und erweiterte ihn durch seine „kritisch -paranoische Methode“. Doch blieb er an diesen für das bürgerliche Publikum schon schockierend weit gezogenen Grenzen nicht stehen. Als „kritischer Paranoiker“ eignete er sich programmatisch wahnhafte Vorstellungen, Gedanken und Wahrnehmungen an - in einer Intensität, die die surrealistische Gruppe erschreckte.

Bevor seine radikale Antibürgerlichkeit zum wirklichen Faschismus regredierte, verschreckte er den surrealistischen Stalinisten Aragon und die meisten anderen Gruppenmitglieder durch seine „verdauungsbetonte Ikonographie“, wie Dali seine auf Fäkalien fixierte Malerei dieser Zeit nannte: „Ich stieß hier wieder auf die gleichen Verbote wie bei meiner Familie. Das Blut war mir gestattet. Ein bißchen Kacke durfte ich draufsetzen. Aber Kacke allein, das gab's nicht. Die Darstellung des Geschlechts wurde mir bewilligt, aber keine analen Phantasmen. Jeder Anus wurde höchst scheel angesehen! Die Lesbierinnen gefielen ihnen gut, nicht aber die Päderasten. In den Träumen konnte man nach Herzenslust Sadismus verwenden, Regenschirme und Nähmaschinen... Mein Entschluß stand sogleich fest. Wenn sie die Scheiße nicht wollten, so würde ich diese Schätze und dieses Gold für mich behalten. Das berühmte, von Breton 20 Jahre später ausgetüftelte Anagramm 'Avida Dollars‘ hätte schon damals als Prophetenspruch verkündet werden können.“ So schrieb Dali in seinem Tagebuch eines Genies.

Bretons Anagramm auf Dalis Geldgeilheit zielte auf dessen „Verrat“ an der surrealistischen Revolution: Von 1940 an lebte Dali 15 Jahre lang in den USA und entwickelte sich dort zum bestverdienenden In terieurmaler, der kapitalistische Markt zog den Surrealismus auf seine Seite. Neben seinen diffus machiavellistischen Ansichten von der Politik hat vor allem diese hemmungslose Massenproduktion an Dalis Ruf und seinem kunstgeschichtlichen Heiligenschein gezehrt. Dennoch ist er, wenn sich Bedeutung denn quantifizieren läßt, der bedeutendste Maler dieses Jahrhunderts - was die Popularität und das Bankkonto angeht, überragt er sogar Picasso.

Ein schmutziges Genie also, das morgen im „Theatro Museo Dali“ beigesetzt wird, ein Sadist, Ekel und polymorph -perverser Irrer, ein Provokateur um jeden Preis, ein manischer Chaot und Besessener, ein Scheinradikaler im öffentlichen Kunstbetrieb - und doch, in seiner ganzen Widerborstigkeit und Exzentrik, seinem Ja-Sagen zum Dreck, zum Bösen und zur Verwirrtheit, seiner überbordenden Phantasie, Inspiration und Transpiration ein Jahrhundertgenie, wie auf tutti keins in Sicht ist. Dali hat Freud wie kein anderer vor ihm (und erst Jahrzehnte später die „Anti-Psychiatrie“) gegen den Strich gelesen. Sein Leben und seine Kunst sind der Versuch, einen neuen Dialog von Vernunft und Wahnsinn zu finden. Schon vor 50 Jahren hat Dali sie formuliert, nach wie vor ist sie aktuell: die „Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit“.

Mathias Bröckers