„Europa der Betrogenen“ oder eines „von vorne und unten“?

„Euroflop '92?“: Die Selbstverwaltungsszene diskutierte den Binnenmarkt / Soziale Existenzrechte stehen nicht zur Debatte, und das Europa-Parlament ist machtlos  ■  Aus Berlin Dietmar Bartz

„Der Binnenmarkt hat sehr wenig mit uns zu tun“, faßte Birgit Cramon-Daiber vom „Goldrausch„-Frauennetzwerk das Arbeitsergebnis einer kleinen Gruppe von AktivistInnen aus Berliner Projekten zusammen. Die Gruppe aus dem Alternativ und Frauenbereich hatte sich zunächst gefragt, ob die vor einem Jahr ausgebrochene Binnenmarkt-Diskussion auch zu unmittelbaren Auswirkungen auf die Selbstverwaltungsszene führe - und dies nach eingehendem Studium von „Bleiwüsten euphorischen Wirtschaftsgeschwafels“, so Eberhard Holstein vom Technokollektiv „Wuseltronick“, verneint. Doch die Arbeitsgruppe verfolgte ein ehrgeiziges Ziel: herauszufinden, was in den Bereichen Umweltschutz, ArbeitnehmerInnen und Sozialpolitik in den kommenden Jahren ins Haus steht. Die Ergebnisse stellte das Netzwerk Selbsthilfe am Montag auf einer Veranstaltung in Berlin vor: „Euroflop '92?“ fragten die Alternativen.

Birgit Cramon-Daiber hatte dabei die Aufgabe übernommen, die Kriterien für eine Bewertung der sozialpolitischen Entwicklungen in Europa zu formulieren. Das war noch recht einfach: Sind die Renten, Arbeits- oder Krankenversicherungen in den einzelnen Ländern bedarfsdeckend oder nicht? Unterliegen sie demokratischen Regelungen? Wieviel zahlt der Staat, wieviel die Anspruchsberechtigten, und wie ändert sich dieses Verhältnis bei einer Europäisierung? Wird unbezahlte Arbeit dabei berücksichtigt? Doch hier ergibt sich gleich ein Dilemma.

Denn während die EG-Bürokratie mit einer Fülle von Richtlinien beschäftigt ist, die auf die Angleichung der Wettbewerbsbedingungen in den Mitgliedsländern zielen, greift sie bisher überhaupt nicht in die von Land zu Land unterschiedlichen sozialen Sicherungssysteme ein - obwohl abzusehen ist, daß die Arbeits- und Sozialkosten über kurz oder lang ebenso der Harmonisierung unterliegen werden wie jetzt schon die Vorschriften zur Freiheit für den Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr. Und wo es schon an Definitionen für soziale Existenzrechte oder gar eine sozialpolitische Zielsetzung der EG mangelt, sind die Systeme der sozialen Sicherung überhaupt nicht mehr vergleichbar. Während es etwa nur in den Niederlanden eine beitragsunabhängige Rente gibt, „ein frauenfreundliches Traumziel“, ist die Alterssicherung in allen anderen Mitgliedsländern mehr oder weniger beitragsgebunden. In Belgien müssen Arbeitslose täglich - und zu unterschiedlichen Tageszeiten - stempeln gehen, während in der BRD das Geld aufs Konto überwiesen wird. In Dänemark werden 90 Prozent des Lohns als Arbeitslosengeld bezahlt in Italien schrumpft der Betrag auf das Minimum von täglich 800 Lire, 1,20 Mark. Sozialhilfe schließlich ist in Frankreich völlig unbekannt - dort wird über ein Grundeinkommen diskutiert, das gerade beim staatlich ausgerechneten Existenzminimum liegt, wesentlich weniger als in der BRD oder den Niederlanden. „Wir müssen bei vordergründig progressiven Forderungen genau hinterfragen, woher sie eigentlich kommen“, warnte sie.

Fragen nach den abzusehenden steigenden Arbeitslosenzahlen werden von der EG-Kommission schnell mit Hinweis auf spekulative Wohlfahrtsgewinne in den nächsten Jahrzehnten beantwortet. Zugleich wird dabei die Tendenz zur Privatisierung von Sozialleistungen von der EG-Kommission weithin gefördert, kritisierte Cramon-Daiber weiter - und „gefährliches Denken“ sei die Hoffnung, daß die behaupteten Wirtschaftszuwächse auch zu Steigerungen bei der sozialen Versorgung führen würden: „Das Geld verschwindet schnell in fremden Taschen, und seine Verwendung pendelt zwischen Verelendungs- und Almosenpolitik.“

Eine unmittelbare Auswirkung auf selbstverwaltete Betriebe hat allerdings eine für das nächste Jahr anstehende Strukturreform des EG-Sozialfonds, aus dem eine ganze Reihe von Projekten gefördert wird. Bisher war es möglich, direkt Anträge in Brüssel zu stellen, doch ab 1990 werden staatliche Stellen zwischengeschaltet - dann müssen Betriebe mit den zuständigen Verwaltungen im Land aushandeln, ob ihre Vorhaben noch in neue „integrierte Programme“ passen.

Optimistischer war da Margit Köppen, beim Hauptvorstand der IG Metall für Wirtschaftspolitik zuständig. Zwar werde Europa derzeit „ganz klar auf Kapitalinteressen ausgerichtet“, doch das müsse nicht zwangsläufig so bleiben. In den EWG-Verträgen sei schließlich die soziale Angleichung „auf dem Wege des Fortschritts“ festgeschrieben, und die europäische Gewerkschaftsbewegung fordere, daß diese Formel bindendes Recht werde.

Zur Diskussion steht derzeit die Ausarbeitung der Europäischen Sozial-Charta. Ziel der Gewerkschaften ist die Festlegung von europaweiten Mindeststandards zum Schutz der ArbeitnehmerInnen: Tarifverträge oder gleicher Lohn bei gleicher Arbeit für Männer und Frauen. Hinzu kommt die Grundsicherung von Nichtarbeitsverhältnissen, im Alter, bei Arbeitslosigkeit oder Krankheit.

Und „Wirtschaftsdemokratie“ verlangen die Gewerkschaften, „fortschrittliche Informations-, Konsultations- und Entscheidungsgremien“ in Unternehmen. Dabei geht es - in der BRD - vor allem darum zu verhindern, daß bei Fusionen mit Konzernen aus dem EG-Ausland die bundesdeutsche Mitbestimmung ausgehebelt wird. Das alles tatsächlich durchzusetzen, räumte Köppen ein, sei schwierig: „Die nationalen Gewerkschaften sind gegenüber dem internationalen Kapital noch nicht konfliktfähig.“

Vorsichtiger Optimismus herrschte auch noch bei Jef Ulburghs. Als Unabhängiger auf der Liste der Sozialistischen Partei Flanderns ins Europa-Parlament gewählt und Freund der Vernetzung von Basisbewegungen, machte er zunächst einen strukturellen Widerspruch aus: „Entweder spielen die Netzwerke das Europaspiel mit und verlieren ihre Identität. Oder sie verweigern sich, dann werden sie weiter marginalisiert.“ „Als moralische Stimme“ sei das Europa -Parlament aber wichtig. Ulburghs plädierte dafür, die Gewerkschaften demokratischer zu machen und mit neuen sozialen Bewegungen zusammenzuarbeiten: „Ich bin für ein Europa von unten nach vorne.“

Dem mochte sich Kollege Benny Härlin, von den Grünen nach Europa geschickt und dort Experte für Gentechnologie, überhaupt nicht anschließen: „Ich glaube nicht an das Europa von unten, das kontrolliert werden könnte. Wer sich so organisieren will, verliert seine Menschlichkeit.“ Härlin, der die Arbeit der Pharma- und Chemielobby in Brüssel verfolgt hat, will im „Europa der Betrogenen“ Resistenz entwickeln und nicht das „grüne Europa als bessere Variante“ haben. Im „postdemokratischen Europa“, so Härlin, haben weitgehend unbekannte Bürokraten und Experten eine unglaubliche Macht, die vom machtlosen Europa-Parlament überhaupt nicht zu beaufsichtigen ist. Denn die Entscheidungen werden letztlich in den Ministerräten gefällt, die sich aus den Ressortchefs der Mitgliedsländer zusammensetzen. Seufzt der Experte: „Wenn es uns wenigstens gelänge, zumindest halbwegs zu kontrollieren, was die BRD in Europa macht.“

Härlin: „Im Binnenmarkt entscheiden die, die am besten organisiert sind - nicht die Regierungen, sondern die Unternehmen.“ Das sei der Vorsprung des Geldes vor der Politik: Es ist einheitlich. Diese Effektivität könne weder durch Regierungen noch durch Gewerkschaften oder andere Organisationen erreicht werden. Härlin über das Europa der Konzernchefs und ihr politisches Oberhaupt: „Das sind die Leute, die die EG-Kommission beherrschen, und Herr Delors ist das schöne sozialistische Aushängeschild.“

Und so stellte sich dann die Frage, wie über die dringend notwendige Informationsarbeit hinaus die solcherart Betrogenen Widerstand leisten könnten. Die Antwort war für die Gewerkschafterin Margit Köppen klar: Das EG-Parlament sei aufzuwerten, bis es tatsächlich arbeitsfähig ist. Doch Birgit Cramon-Daiber traf die Stimmung eher, als sie freiweg zugab: „Wenn ich darauf eine Antwort wüßte.“