ZWILLE STATT ZWILLINGE

■ The Proclaimers und Attacco Decente im Loft

Es waren Zwillingsbrüder, die hatten einander so lieb, sie konnten voneinander nicht lassen, deshalb machten sie Musik.

„Zwillinge haben freien Eintritt“, hieß es in einer Anzeige der Plattengesellschaft der Proclaimers, aber außer den Brüdern Charly und Craig Reid aus Achtermuchty in Schottland, die sich als Musiker ausgeben konnten, fand nur ein überprüfbares Zwillingspaar umsonst ins Loft. Ein weiteres Duo aus Australien sah sich weder ähnlich noch konnten sie anderweitig ihre ein- oder zweieiige Verwandschaft beurkunden. Also mußten sie bezahlen.

Da man sich zu zweit ziemlich schnell in die Quere kommt, haben die Brüder Reid noch ein paar Kumpels mitgebracht, die auch schon einmal eine Gitarre gehalten oder auf einem Benzinfaß rumgetrommelt haben. Wenn sie dann noch fröhlich grinsen können, steht einer gemeinsamen Promotiontournee nichts mehr im Wege. Vom rein geschäftlichen Standpunkt aus gesehen ist es doch einfach so: Wir können den Leuten nicht ständig im Radio einen bestimmten Wurm ins Ohr setzen und sie dann damit alleine lassen. Die Leute erwarten heute schon etwas mehr, ein paar smarte Gesichter, die sich auch videogerecht ablichten lassen, ein wenig Intelligenz, ja vielleicht sogar eine politische Meinung mit dem passenden Haarschnitt dazu. Ansonsten müssen wir uns nur ins Studio setzen und so lange an den Songs herumproduzieren, bis sie eben in fast jedes Ohr passen; natürich nicht in jedes, sonst fehlt nachher der Kulturstatus, die Abgrenzungsmöglichkeit der verfeindeten Fans unserer einzelnen Produkte untereinander. Ach ja, die Texte nicht zu vergessen, wie wär's mit Auswandererschmerz, so echt schottisch, weil doch die Schotten immer weg müssen, auf die Bohrinseln und sonstwohin. Ein Titel wie „Letter from America“, da kann sich jeder was drunter vorstellen, und eine kleine Melodiespule hatten wir auch noch irgendwo rumliegen. Gemacht, die Sache ist im Kasten, jetzt müssen die Jungs nur noch ein Interview im NME geben, und dann schicken wir sie auf die Jugend los. Und auf Tournee. So nahm das Desaster seinen Lauf.

Im Konzert sind die Zwillingsaffen einfach langweilig, da können ihre eingeschworenen Fans noch so perfekt die auswendig gelernten Texte mitgröhlen, an der richtigen Stelle die Feuerzeuge brennend in die Luft halten oder wie die Blöden die gespreizten Finger nach vorn recken. Die Proclaimers weigern sich beharrlich, mehr als drei verschiedene Rhythmen oder Akkorde zu spielen. Eine dumpfe, gut gelaunte Schlagersoße ergießt sich in unsere Ohren, ja, wir sind alle gut drauf, ja, wir wollen die Nacht durchtanzen, ja, wir wollen eine Steelguitar und eine Geige auf der Bühen sehen, denn das sind schöne Instrumente. Und wir wollen eine tolle Zugabe bekommen, mit einem ganz lang ausgewalzten kleinen Hit, in nicht enden wollender Ekstase, ja Ekstase, mit einem Gitarrenhochsprung am Ende. Dann sind wir zufrieden und gehen brav ins Bettchen.

Diese Gruppe sollte da bleiben, wo sie hingehört, im Vormittagsradio für swingende Hausfrauen. Gut, daß es vor den Verkündern des heilen Weltschmerzes noch eine sogenannte Vorgruppe zu bestaunen gab. „Atacco Decente“, aus dem Seeörtchen Brighton, eingefleischte Sozialisten, die 1986 ihre Platte „United Kingdom of America“ eingespielt haben. Die drei kommen ohne Schlagzeug und Baß aus, dafür beackern sie eine Reihe selbstgebauter Instrumente, eine Zitterharfe, eine Atacco-Harfe und ein Giant Tongue Drum, deren metallische Zungen mit Holzschlägeln behämmert werden. Ihr mehrstimmiger Gesang erinnert an die verblichenen Housemartins, hat aber nicht deren Penetranz und glatte Eingängigkeit, sondern eine originelle Verruchtheit. Sie sind noch ein wenig unsicher im Auftreten, versuchen auf deutsch ihre Titel anzusagen - jetzt ein Lied für alle Kriegsdienstverweigerer - aber sie freuen sich über den Erfolg, im Gegensatz zu den Proclaimers, die den Jubel nur noch arrogant wegstecken. Nach dem Auftritt verteilen „Atacco Decente“ ihr Band-Info im Publikum und verkaufen ihre Schallplatte. Die Independenthelden sterben nicht aus. „Zwillinge“ leider auch nicht.

Andreas Becker