Maulkorb für Siemens: Die Meinung bleibt frei

■ IG-Metall-Vertrauensmann gewann Arbeitsgerichtsprozeß / Der Konzern hatte ihm fristlos wegen kritischer Äußerungen über die Situation am Band gekündigt

Die Meinungsfreiheit muß auch in einem Betrieb gewährleistet sein - zu diesem Schluß kam gestern das Arbeitsgericht. Im Oktober letzten Jahres hatte der Fließbandarbeiter Hüseyin Canpolat auf einer Betriebsversammlung im Bosch-Siemens -Hausgerätewerk die Arbeitsbedingungen im Betrieb angeprangert. Der IG-Metall-Vertrauensmann hatte behauptet, eine Arbeiterin hätte eine Fehlgeburt erlitten, weil sie für besonders schwere Arbeiten eingesetzt worden sei. Weiter sagte Canpolat, ein Arbeiter sei am Fließband zusammengebrochen, weil er nicht rechtzeitig auf die Toilette gehen durfte. Seinem Schichtführer soll Canpolat vorgeworfen haben, er sei so dumm, daß er nicht einmal rechnen könne - der Schichtführer hatte mehrmals zu niedrige Akkordzahlen notiert. Aufgrund dieser Äußerungen im Betrieb ließ Siemens Canpolat vom Werkschutz rausschmeißen und kündigte ihm fristlos: Der Vertrauensmann habe mit übler Nachrede den Betriebsfrieden gestört.

Gestern verhandelte nun das Arbeitsgericht die Kündigungsschutzklage von Canpolat: Die Kündigung war unzulässig, befand das Gericht, und Hüseyin Canpolat sei bei Siemens weiterzubeschäftigen. Berufsrichter Strieder erteilte der Siemens-Rechtsanwältin Nachhilfe in Sachen Meinungsfreiheit. Eine Betriebsversammlung sei dazu da, Mißstände und kursierende Gerüchte im Betrieb zu besprechen. Dabei könnten auch deutliche Worte fallen. Wenn Siemens die Vorwürfe bestreite, hätte ja ein Firmenvertreter das Wort ergreifen und eine Gegenrede halten können. Die Kündigung eines vierjährigen Arbeitsverhältnisses sei vollkommen überzogen. Die Einengung der Meinungsfreiheit sei unerträglich, so Richter Strieder.

Hinter der Überreaktion des Arbeitgebers steckt offensichtlich etwas ganz anderes: Canpolat soll als angeblicher Rädelsführer unbequemer ArbeiterInnen rausfliegen. Seit Jahren beschweren sich ArbeiterInnen über erhöhte Leistungsanforderungen. Die Akkordsätze wurden immer höher gesetzt. Eine Fließbandschicht stellte vor Jahren noch 500 Waschmaschinen und Wäschetrockner her. Heute muß die gleiche Schicht - ohne daß technische Neuerungen eingeführt wurden - 780 Hausgeräte in der Endmontage bauen, und für dieses Frühjahr sind 840 Maschinen geplant.

Angeblich soll die Werksleitung eine „Schwarze Liste“ mit Aufrührern angelegt haben. Auf dieser Liste dürfte neben Hüseyin Canpolat auch sein Kollege Mustafa Birbalta stehen. Birbalta wurde wegen angeblicher Fehlzeiten - er kam einmal drei und einmal fünf Minuten zu spät - gekündigt. In erster Instanz hob das Arbeitsgericht diese Kündigung auf. Siemens verwehrt aber Birbalta den Zutritt zum Werk und enthält ihm seinen Lohn vor. Nun müssen gerichtliche Zwangsmittel eingesetzt werden, damit Birbalta wieder an seinen Arbeitsplatz kann.

Ähnlich wird es wohl auch Hüseyin Canpolat gehen. Bosch -Siemens hat Berufung gegen das gestrige Urteil angekündigt.

Rainer Wernicke