Deckt Schweden deutsche Kriegsverbrecher?

Im Windschatten anderer Flüchtlinge suchten 1944 rund 1600 Nazis Asyl im neutralen Schweden / Auslieferungsgesuchen gab Stockholm nicht statt / Historikerin schätzt, daß viele Nazis noch dort leben  ■  Aus Stockholm G. Petterson

1939 emigrierte er nach Schweden. In ein Land, „in dem das Kapital ungehindert regierte, die Sozialdemokraten für den Ausgleich zwischen den Klassen sorgten und der Wille zur Gegenwehr seit langem unterhöhlt worden war“. Peter Weiss sezierte in seiner Romantrilogie Die Ästhetik des Widerstandes die schwedische Flüchtlingspolitik während des faschistischen Terrors in Nazi-Deutschland. Ein Emigrantenleben lang hatte er Schwierigkeiten mit Schweden, das noch bis 1942 Juden nicht als politische Flüchtlinge anerkannte und das trotz seiner Neutralität zwischen 1940 und 1943 deutschen Truppen den Transit von und nach Norwegen gestattete.

Vom Preis der Neutralität spricht auch Helene Lööw, Historikerin an der Universität Göteburg, wenn sie nach Erklärungen dafür sucht, warum ausgerechnet Schweden gegen Ende des 2. Weltkrieges rund 1.600 Personen, die dem Faschismus zuzurechnen sind, Unterschlupf und Asyl gewährte, ihnen zur schwedischen Staatsbürgerschaft verhalf, ihre Ausreise nach Südamerika ermöglichte und sie bis heute vor Auslieferung schützt.

Die Faschisten, Kriegsverbrecher, Mitläufer, Kollaborateure kamen vor allem aus den baltischen Staaten, nicht direkt aus Nazi-Deutschland. „Wir haben Juden, Kommunisten, Sozialisten und generell Widerstandskämpfer aufgenommen, jetzt müssen wir auch Leute von der anderen Seite reinlassen.“ So oder ähnlich könnten die Gedankengänge gewesen sein, meint die Historikerin. „Das hängt einfach zusammen mit der neutralen Sichtweise.“

Vor diesem Hintergrund war es möglich, daß die Nazis vor allem mit Hilfe des schwedischen Militärs und Geheimdienstes ins neutrale Schweden kamen. Und zwar im Windschatten der rund 195.000 Flüchtlinge , die es im Dezember 1944 in Schweden gab und die hauptsächlich in sieben Lagern untergebracht waren. Den Anteil der für SS und Gestapo arbeitenden Kriegsverbrecher unter den 1.600 bezeichnet Helene Lööw als relativ klein, nicht exakt feststellbar, doch „irgendwo um die Zahl 500 herum“.

Exakt feststellbar ist jedoch, daß ein direkt von Himmler eingesetzter lettischer Minister darunter war. Auch ein Estländer, der 1967 in Abwesenheit in Estland zum Tode verurteilt wurde. Unter anderem wegen Mordes an der schwedischer Bevölkerung in Estland. Der zum Tode Verurteilte ist einer von denen, die noch heute unbehelligt als schwedische Staatsangehörige in dem viertgrößten Land Europas mit den nur rund 8,3 Millionen Einwohnern leben. Ein offizielles Auslieferungsbegehren der Sowjetunion wurde negativ beschieden.

Helene Lööw ist überzeugt davon, daß die wenigsten der Kriegsverbrecher nach Südamerika gingen. Sie glaubt, daß die meisten nach wie vor in Schweden leben, sofern sie nicht verstorben sind. Eine Erklärung auch dafür, warum das Thema Auslieferung in Schweden keines ist. Eigene Staatsangehörige liefert man nun mal nicht aus. Und man sieht auch keine Veranlassung, für diesen speziellen Kreis der Kriegsverbrecher Gesetze zu ändern. Diese Antwort erhielt jedenfalls das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles auf einen Vorstoß, den es 1987 wegen zwölf namentlich bekannter Kriegsverbrecher unternahm.

Es waren nicht die oberen Chargen wie beispielsweise der Justizminister, die den Kriegsverbrechern Unterschlupf ermöglichten, erklärte Helene Lööw: „Formell war der Justizminister zwar zuständig, aber in Wirklichkeit liefen die Entscheidungen über die Einwanderungsbehörde. Auch Militär und Geheimdienst hatten alle ihre Finger im Spiel.“

Militär und Geheimdienst waren es auch, die die sogenannte „Lebenslinie“ einrichteten, eine ganz spezielle Art von Kompensationsgeschäft: Per Boot transportierte das schwedische Militär Agenten ins Balitikum, auf dem Rückweg nahm man handverlesene Flüchtlinge mit zurück nach Schweden. Vor allem Kommunisten und Juden, die oft für eine solche Reise Bares im vorhinein bezahlen mußten, beklagten, daß die „Lebenslinie“ fast ausschließlich für die Nazis da war. „Die Juden bezahlten, aber es kamen keine“, sagt Helene Lööw. Und die Regierung? „Die Regierung interessierte überhaupt nicht, wer kam. Der Schiffskapitän traf letztendlich die Entscheidung.“ Informationen, die Helene Lööw aus den bis 1985 mit dem Stempel „Geheim“ versehenen Sandler-Akten entnahm.

Das dunkle Kapitel schwedischer Geschichte hat der Göteburger Historikerin viel Beachtung beschert: „Briefe kommen aus der ganzen Welt.“ Von denen, die die schwedische Staatsangehörigkeit vor Auslieferung schützt, bekam sie ebenfalls Post. Auch von Militärs, die damals mittenmang dabei waren. „Es sind keine freundlichen Briefe.“ Doch die schwedische Öffentlichkeit interessiert sich nicht sonderlich für diesen Teil ihrer Geschichte.

„Das ist kein Thema für die Schweden, weil es vielleicht zu schmerzhaft ist.“ Trotzdem ist die Historikerin überzeugt davon, daß die Zeit der selbstkritischen Diskussion kommen wird.