Jeder für sich

■ Der Gewinner des Europäischen Filmpreises und einer der aufregendsten Filme seit langem, Krzysztof Kieslowskis „Ein kurzer Film über das Töten“, kommt heute in die Kinos

Christiane Peitz

Der Taxifahrer ist kräftig, Jacek eher hager. Jacek sitzt hinten, den Strick um die Hand gewickelt, der Taxifahrer vorne, ahnungslos. Jacek wirft den Strick über den Kopf des Taxifahreres und zieht zu, mit aller Kraft. Er beißt auf die Zähne, spannt die Muskeln, aber der Strick bleibt in den Mundwinkeln des Opfers hängen. Das windet und wehrt sich, im Eifer des Kampfes zieht es sich Schuh und Strumpf aus, während Jacek sich mit den Füßen gegen den Vordersitz stemmt, um fester ziehen zu können. Jetzt liegt der Strick um den Hals, Jacek bindet ihn an der Kopfstütze fest. Aber der Specknacken ist zu dick. Die Hand des Taxifahrers hat die Hupe gefunden, er hupt, lang und laut, aber da ist nur ein Pferd auf dem Acker, das langsam den Kopf wendet. Und ein Zug fährt langsam vorbei und tutet. Es geht alles so langsam. Jacek steigt aus, schlägt dem Taxifahrer mit einem Stock auf den Kopf. Dessen Gebiß fällt heraus, Jacek sieht es auf der Erde liegen, ihm wird schlecht. Er tritt es in den weichen Ackerboden, aber das Gebiß ist elastisch und richtet sich wieder auf. Es sieht lebendig aus.

Der Taxifahrer ist tot, endlich, die verdrehten Augen sehen eklig aus. Jacek wirft ihm eine Decke über den Kopf und schleift die Leiche zum Fluß. Aber da beginnt der Kopf unter der Decke wieder zu wimmern und zu stöhnen - es ist noch lange nicht zu Ende. Das Töten im Kurzen Film über das Töten dauert eine Ewigkeit.

Jacek in der Zelle, gleich holen sie ihn ab. Der Henker hat noch zu tun. Er prüft den Strick, ölt das Gewinde, öffnet die Bodenklappe und stellt die gelbe Plastikschüssel in die Vertiefung. Er schiebt den Vorhang, der den Raum mit dem Strick vom Eingangsraum trennt, zur Seite. Der Vorhang klemmt, das muß noch repariert werden. Dann raucht er eine Zigarette. Der Direktor sagt: „Die Aktentasche können Sie in meinem Büro lassen.“ Dasselbe hatte er vorher zu dem jungen Anwalt gesagt, der Jacek noch einmal in seiner Zelle besucht. Es ist soweit.

Acht Gefängniswärter postieren sich vor der Zellentür. Als Jacek sagt: „Ich will nicht“, stürzen sie sich auf ihn wie auf ein Stück Vieh. Sie schleifen ihn durch die Flure. Als er vor dem Vorhang steht, halten sie ihn immer noch fest, alle acht. Ich nehme an, Kieslowski hat sich das nicht ausgedacht; sie machen wirklich so ein Theater. Der Priester segnet ihn, Jacek packt seine Hand und küßt sie, der Priester zieht sie erschrocken zurück und legt sie auf Jaceks gesenkten Kopf. Aber er zaudert und zieht die Hand wieder zurück. Er weiß nicht, wohin damit. Der Henker zündet Jacek eine Zigarette an und steckt sie ihm in den Mund. Er muß sie gleich wieder ausdrücken.

Dann geht alles ganz schnell, die einzige schnelle Szene im Film. Einer bindet Jacek die Augen zu, einer legt ihm die Schlinge um den Hals, einer kurbelt den Strick hoch, „höher“, schreit er, „höher, noch höher“, alle geraten in heftige Erregung, bis kurz vor dem Höhepunkt. Einen Augenblick Stille, die Klappe öffnet sich unter Jaceks Füßen, sie baumeln in der Luft. Seine gefesselten Hände spreizen sich, dann werden sie schlaff. Er ist tot. Nein, die Hände erstarren noch einmal, jetzt erst. Der Arzt tritt vor, reißt ihm das Hemd hoch und horcht ihn ab, der Henker nickt bedächtig Richtung Direktor. Die Scheiße plumpst in die gelbe Plastikschüssel, es ist vorbei.

Gesehen haben wir zwei Morde, einen illegalen, einen legalen. Nicht gesehen haben wir deren Motive. Kieslowski filmt weder den Prozeß, der mit dem Todesurteil endet, noch erzählt er uns, warum Jacek den Taxifahrer tötet. Seine Mordszenen sind nicht grausamer als jeder andere Kinomord auch, das Grausame ist, daß er sie nicht erklärt. Daß er sie nicht in einen Erzählfluß einbettet. Die Story enthält er uns vor, Kieslowski verdonnert uns zum Sehen, unerbittlich. Und zwingt uns seine Genauigkeit auf.

Eine tote Ratte am Flußufer. Dazu hört man fröhliches Kindergeschrei. Die fiese Ratte und die harmlosen Kinder. Was für ein Kontrast, denkt man. Dann sieht man eine Katze an einer Teppichstange hängen, sie schaukelt noch. Die Kinder rennen weg, sie haben die Katze gehenkt. Man sieht es nicht, man hört es nur. Von wegen Kontrast.

Der Taxifahrer kann Katzen nicht leiden, Menschen auch nicht: Er nimmt selten welche mit. Den meisten Kunden fährt er davon. Aber das Auto wäscht er mit Hingebung. Am Rückspiegel baumelt ein Kasperlepuppenkopf, eine Fratze.

Jacek streunt durch die Stadt. Er geht ins Kino, fragt die Kassiererin nach dem Film. Wetherby mit Vanessa Redgrave und mit einer grausamen Selbstmordszene. Der Junge schießt sich das Gehirn aus dem Kopf. Aber das sagt die Kassiererin nicht. Sie sagt: „Langweilig, ein Liebesfilm.“ Sie sieht Jacek dabei nicht an. Zwischen ihnen die Glasscheibe.

Der junge Anwalt ist nervös. Er raucht eine Zigarette und drückt sie hastig wieder aus. Assessorprüfung. Er macht eine schlechte Figur. Er spricht über den Sinn von Strafe und, daß seit Kain und Abel die Androhung von Strafe noch nie ein Verbrechen verhindert hat. Die Szene bricht mitten im Satz ab.

Nach bestandener Prüfung geht der Anwalt mit seiner Freundin ins Cafe. Sie sitzt mit dem Rücken zum Fenster, genau vor dem grüngetönten Rechteck, das draußen Name und Öffnungszeiten des Cafes anzeigt. Das Grün rahmt sie ein, trennt sie von ihrem Freund. Obwohl er dicht neben ihr sitzt. Sie liebt ihn, sagt sie und Geigen ertönen. Jacek sitzt nur wenige Meter entfernt, den Strick hat er schon um die Hand gewickelt, heimlich, unter dem Tisch. Eine Großaufnahme. Die Geigen ertönen immer noch. Jacek wird der erste Mandant des Rechtsanwalts sein, den Prozeß wird er verlieren. Daß sie vorher im gleichen Cafe sitzen, ist Zufall.

Draußen drücken sich zwei Kinder am Schaufenster die Nasen platt. Jacek sieht sie und schnippt mit dem Löffel ein Häufchen Kaffeesatz an die Scheibe, genau auf die Kindergesichter. Die Kinder lachen. Der Kaffee auf der Scheibe sieht aus wie später das Häufchen Scheiße in der Plastikschüssel.

Immer wieder Glasscheiben, Schaufenster. Oft ist die Kamera draußen und das Gefilmte drin, oder umgekehrt. Oder das Bild ist senkrecht in zwei Hälften getrennt, durch einen Türpfosten, einen Fensterrahmen, eine Häuserecke. Kieslowski arbeitet mit Großaufnahmen. Jaceks Profil und dahinter die Stadt. Ein Autowrack und dahinter die Hochhaussiedlung. Vorne scharf und hinten unscharf. Die Figuren sind vom Hintergrund abgelöst, als seien sie draufmontiert. Sie bleiben isoliert, jeder für sich. Und Warschau, ein graues, düsteres Warschau ist die Kulisse für die Großaufnahme als ein Bühnengeschehen. Als etwas Unwirkliches. Etwas, das wirklicher ist als wirklich. Der Müll ist noch dreckiger, die Siedlung noch häßlicher, die Zigaretten schmecken noch schlechter.

Aus der Not des schlechten Filmmaterials und der kurzen Drehzeit hat Kieslowski eine Tugend gemacht: Er reduziert auf das Wesentliche. Manche Szene reißt mittendrin ab, die Einstellungen sind selten sauber ausgeleuchtet. Die Grün und Gelbfilter vor der Kameralinse schaffen ein schmutziges Halbdunkel, daß man sich mühen muß. Die Augen Jaceks sind immer im Schatten, das verhindert, daß wir mit ihnen vertraut werden. Kieslowski enthält uns die Augen vor, das macht das Töten so unerträglich.

Geschichten erzählen nur die Dinge. Kieslowksi variiert Details, kreiert Motive. Die Farbe Grün zum Beispiel. Das Flaschengrün der Glasscheiben, die Freundin vor dem grünen Rechteck, die Frontscheibe des Taxis, der Grünstich. Oft schimmert es einfach in irgendeiner Bildecke. Ein billiges, fadenscheiniges Grün. Und in der zweiten Filmhälfte das dunkle Militärgrün des Polizeiwagens, des Gefängnistores, der Anstaltskleidung Jaceks. Es ziert auch den Kragensaum am Talar des Anwalts. Oder die Tiere: tote Käfer, die Ratte, die Katze, ein Hund am Straßenrand, das gleichgültige Pferd. In dieser Reihenfolge. Der Kaffeesatz und die Scheiße. Die gehenkte Katze, der Puppenkopf, der gehenkte Jacek. Die Prüfungsangst im Gesicht des Anwalts, die Todesangst Jaceks. Die Geigen im Cafe.

Die Dinge erzählen, daß es so kommen mußte. Die Motive bündeln sich in den Mordszenen. Alles läuft auf sie hinaus. So sehr die Menschen einander ausweichen, so unausweichlich ist das Töten.

In der Zelle erzählt Jacek dem Anwalt von seiner Schwester. Als Mädchen wurde sie vom Traktor überfahren. Der Traktorfahrer war Jaceks Freund, Jacek hatte an dem Tag mit ihm zusammen getrunken. Die Schwester liebte Bäume, Wiesen, das Grün, erzählt er.

Nach Jaceks Tod parkt der Anwalt sein Auto am Waldrand. Er weint. Das Wiesengrün füllt die Leinwand. Es ist der pure Hohn.

Christiane Peitz

Krzysztof Kieslowski: Kurzer Film über das Töten, Drehbuch mit K. Piesiewicz, Kamera: Slawomir Idziak, mit Miroslaw Baka, Jan Tesarz und Krzysztof Globisz, Polen 1987, 85 Min.