Skandalchronik im Memminger Hexenprozeß

Zermürbungstaktik gegen Dr.Theissen erfolgreich / Angeklagter Arzt hat Praxis aufgegeben / Trotz Rechtsbeugung wird weiterverhandelt / Staatsanwaltschaft behält weiterhin die beschlagnahmten 1.500 PatientInnenkarten  ■  Aus Memmingen Luitgard Koch

Vom Winter fehlt zwar in Bayern jede Spur, dennoch ist das Klima im Sitzungssaal eins des Memminger Landgerichts eisig. Grußlos rauschen die beiden jungen Staatsanwälte Herbert Krause und Johann Kreuzpointner an dem Frankfurter Rechtsanwalt Jürgen Fischer vorbei. Es ist der 34.Verhandlungstag im umstrittenen Abtreibungsprozeß gegen den inzwischen bundesweit bekannten Frauenarzt Horst Theissen. Der Gynäkologe ist angeklagt, in 156 Fällen illegale Abtreibungen durchgeführt zu haben.

Scheinbar ruhig und gelassen steht der Vater von zwei Kindern neben seinem Verteidiger. Doch der erste Eindruck täuscht. Das Kesseltreiben der bayerischen Justiz gegen den Arzt, der vielen Frauen in ihrer Not geholfen hat, war erfolgreich. Zum 1.Januar dieses Jahres hat Theissen seine Praxis aufgegeben. Sein Haus mußte er bereits vor einem Jahr verkaufen, um gegen eine Kaution von 300.000Mark wieder freigelassen zu werden. Umsonst waren die Briefe vieler Frauen an die unerbittlichen Richter: „Nehmen Sie uns nicht diesen Arzt weg!“ Die Richter aber hatten bereits bei der Ärztekammer nachgefragt, ob nicht ein vorläufiges Ruhen der Berufserlaubnis für Theissen beschlossen worden sei. Aber nicht nur der Arzt steht wie im Mittelalter am Pranger. Vor allem die Frauen werden bei dieser Memminger Hexenjagd immer wieder vor den Richtertisch geschleift. Nachdem viele von ihnen bereits wegen Abtreibung zu Geldstrafen von 900 bis 3000 Mark verurteilt wurden, müssen sie und ihre Männer auch noch als ZeugInnen erscheinen und gegen den 50jährigen Arzt aussagen.

„Fragen Sie mich nicht“, winkt Richter Heinrich genervt ab. Selbst das Gericht scheint in diesem Mammutprozeß den Überblick verloren zu haben, wieviel Frauen bereits vernommen wurden. „Rund 40“, so die vage Auskunft. Immer wenn das abgegriffene Pappschild mit der in altdeutschen Buchstaben aufgemalten Schrift: „Öffentlichkeit ausgeschlossen“ an der Tür hängt, muß sich drinnen im Gerichtssaal eine Frau peinlichen Fragen unterziehen.

Ein Mann horcht an der Tür. Seit über einer Stunde wird seine Frau bereits vernommen. „Was wollen die von mir, ich sag‘ kein Wort“, tobt er auf dem Gang. Auch er soll als Zeuge vor Gericht aussagen. Doch so weit kommt es nicht. Da er nicht der „Schwängerer“ war, so das Amtsdeutsch, verzichtet das Gericht auf seine Aussage. Für die Frau ist das Drama perfekt. Von der Abtreibung vor der Heirat hatte sie ihrem Mann nichts erzählt. In einem ähnlich gelagerten Fall hat der Mann daraufhin die Scheidung eingereicht. So werden durch die Schnüffelei des Gerichts Ehen zerstört und Familien auseinandergerissen.

Soziale Not zwingt die Frauen vielfach zur Abtreibung. Besonders das Schicksal der Ausländerinnen ist hart. Ein weiteres Kind können sie sich im wahrsten Sinn des Wortes vielfach nicht leisten. Unverheiratet, geschieden, verschuldet und arbeitslos, so die häufigsten Motive, die die Frauen zu diesem Schritt gezwungen haben. Für den Frauenarzt sind ihre Aussagen die Bestätigung dafür, daß seine Entscheidung richtig gewesen ist, daß die Voraussetzung für eine soziale Indikation gegeben war. Und auch die Memminger Richter haben sich bisher noch in keinem Fall geäußert, ob eine Notlage vorlag oder nicht.

Wie schwierig indes die Beurteilung einer Notlagenindikation nach Paragraph218 grundsätzlich ist, da die Kriterien nicht eindeutig festgelegt sind, betonten bisher sämtliche Gutachter vor Gericht. Insbesondere zweifeln sie daran, daß die Beratungssituation nach Jahren vor Gericht rekonstruierbar ist. Mit den Gutachtern hatte das Gericht also bisher kein Glück. Selbst der konservative Arzt, Diplompsychologe und Abtreibungsgegner aus Freiburg, Walter Schuth, verwies ausdrücklich auf die Grenzen der Beratungsmöglichkeit. „Mir geht es darum, daß die Frau die Entscheidung trifft“, stellte er fest. In seiner langjährigen Praxis habe er es noch so gut wie nie erlebt, daß eine Frau von ihrer Entscheidung abzubringen war. Doch auch das focht das Gericht nicht an.

Da bei Theissen viele Ausländerinnen Patientinnen waren, referierte der Rechtswissenschaftler Hans-Georg Koch vom Max -Planck Institut Freiburg zur Abtreibungspraxis in den verschiedenen europäischen Staaten. Die Regelungen sind sehr unterschiedlich, stellte er fest. So ist in Griechenland der Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche erlaubt, während in Spanien eine striktes Indikationsmodell gilt. Immer wieder verwies er darauf, daß die „Verfolgungsintensität“ in Ländern wie Jugoslawien, Griechenland und selbst Italien gering ist. Bemerkenswert: selbst das abtreibungsfeindliche Italien hat ein Fristenmodell von 90 Tagen. Bei einem Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten 90 Tage werden lediglich Verfahrensverstöße geahndet. Die Zahl der Abtreibungen in den Niederlanden, dort ist der Abbruch straffrei, ist im Vergleich zur BRD und Italien gering. Während in den Niederlanden auf 100 Geburten 9,2 Abbrüche fallen, sind es in der BRD rund 30, in Italien sogar 40, so die Studie von Koch.

Stur wurde das Verfahren durchgezogen, und sämtliche Befangenheitsanträge der Verteidigung wurden vom Tisch gefegt. Ende November drohte der Prozeß deshalb zu platzen. Die Richter hatten sich ihre „Unbefangenheit“ selbst bestätigt. Die Verteidigung sieht darin einen Revisionsgrund.

Vom Gericht abgeschmettert wurde auch die Forderung der Verteidigung, die restlichen 1.500 PatientInnenkarten an Theissen zurückzugeben, die bei der Durchsuchung seiner Praxis beschlagnahmt wurden. Diese Unterlagen, will der ehrgeizige Staatsanwalt Herbert Krause nicht rausrücken. Der 35jährige, der bei seiner Mutter wohnt, will daraus möglicherweise Rückschlüsse auf die in der Anklage erfaßten Fälle ziehen.

Eigentlich sollte in diesen Tagen bereits das Urteil verkündet werden. Der Prozeß wird sich jedoch voraussichtlich noch bis Ende April hinziehen.