Herrmann hat Angst

■ Das Krankheitsbild der Aids-Phobie nimmt zu

„Ein Kuß kann mehr erregen als man denkt.“ Der erfolgversprechende Werbespruch auf einem Plakat zielt mitten ins Herz eines weitverbreiteten Krankheitsbildes: der Aids-Phobie. Die irrationale Angst vor einer HIV-Infektion bei „negativ„-getesteten Patienten, die parallel zur Aids -Epidemie auftritt, stellt ein wachsendes psychosoziales Problem dar.

Die Arbeitsgruppe Aids im städtischen Krankenhaus München -Schwabing stellte auf dem 2.Deutschen Aids-Kongreß in Berlin ihre Studie vor, die die Hintergründe der Aids-Phobie untersucht hat und der Frage nachgeht, wer zum Phobiker wird.

Der durchschnittliche Aids-Phobiker, nennen wir ihn Herrmann, ist männlich, zwischen 30 und 39 Jahre alt und gehört keiner sogenannten Risikogruppe an. Herrmann ist Lehrer und lebt in einer festen Beziehung. Seiner Liebsten ist er treu. Bis auf das eine Mal, ein winziger Seitensprung vor fünf Jahren im Urlaub. Eigentlich kaum der Rede wert. Aber seitdem er die Berichte über Aids gelesen hat, plagen Herrmann heftige Ängste. Nachts wacht er schweißgebadet auf, fühlt sich von Fieber geschüttelt und tastet ängstlich nach geschwollenen Lymphknoten. Er befürchtet das Schlimmste, kauft sich medizinische Fachliteratur und Lexika, vernachlässigt seine Arbeit und nervt seine Freundin. Um endlich Gewißheit zu erlangen, geht er schließlich zu einer Beratungsstelle und läßt sein Blut auf Antikörper testen. Der Test fällt negativ aus. Herrmann hätte allen Grund aufzuatmen. Weit gefehlt. Die Sicherheit der Testmethode wird angezweifelt, mögliche Fehlerquoten und eventuelle neue Typen des HI-Virus werden vorgetragen. Herrmann läßt einen zweiten Test machen. Wieder negativ. Aber wieder bleibt Herrmann unbeeindruckt. Er ist fest davon überzeugt, daß er Aids hat.

Aids-Phobiker wie Herrmann belasten zunehmend die Beratungsstellen. Erfahrene Psychologen, durch die Betreuung von tatsächlich HIV-Positiven beansprucht, sind gezwungen, sich mit einem Problem auseinanderzusetzen, das eigentlich nur sekundär in ihren Bereich fällt. Hinweise auf die seelischen Probleme dieser Patienten erreichen nichts. Beharrlich pochen sie auf ihre Symptome, die durchaus auch in der beschriebenen Form auftreten können. Bei den meisten männlichen Aids-Phobikern liegt die Ursache in schuldbeladenen Sexualkontakten, sei es mit Prostituierten, sei es durch einen Seitensprung.

Frauen, die etwas seltener unter der Aids-Phobie leiden, berichten häufig von bereits früher aufgetretenen Existenzängsten, depressiven Verstimmungen oder hypochondrischen Befürchtungen.

Beiden, männlichen wie weiblichen Aids-Phobikern ist jedoch gemeinsam, daß sie eine grundsätzliche Disposition zur Phobie haben. Vor welcher Krankheit eine phobische Angst besteht, ist eine Modeerscheinung, je nachdem, was in den Medien gerade Konjunktur hat. War es früher Syphilis, Herzinfarkt oder Krebs - eine Krankheit, die nahezu alle Phobiker bereits einmal „durchgemacht“ haben - so ist es heute Aids.

Angst vor einer Infektion ist, gemessen an der Schwere der Krankheit, durchaus berechtigt und allemal ernst zu nehmen. Zu unterscheiden ist jedoch zwischen einer begründeten Befürchtung und krankhaften destruktiven Angstzuständen. Die einzige Möglichkeit, Aids-Phobiker zu behandeln, ist eine intensive psychotherapeutische Betreuung. Diese bei den Betroffenen durchzusetzen stößt jedoch auf erhebliche Widerstände. Denn die Herrmänner sind auch Hart-Männer, sie haben keine seelischen Probleme. Sie haben Aids.

Petra Dubilski