Aids - Daten statt Kondome

■ 2. Deutscher Aids-Kongreß im Berliner ICC / Epidemiologen machen mobil

Mit 400 Präsentationen diskutierte der 2.Deutsche Aids -Kongreß zwei Tage lang die Immunschwächekrankheit. Es blieb ein medizinischer Kongreß im engeren Sinne. Die psychosozialen Auswirkungen von Aids, die direkt mit der Progression dieser Krankheit verknüpft sind, waren kein Thema. Daten und Zahlen sind mehr denn je gefragt, Gratisspritzen und Kondome treten in den Hintergrund.

Keiner kann dem Virus entkommen: Das einen zehntausendstel Millimeter große HIV hat der Behring-Konzern in einem knalligen Zwei-Meter-Modell vor dem Aufgang zum Vortragssaal plaziert. Jeder muß daran vorbei. Dahinter: „Gib Aids keine Chance - mit Behring-Diagnostika“. Gleich nebenan bietet der Hersteller Mast „die zuverlässige Aids-Diagnostik im Handumdrehen“. Auch „Biotest“ weiß Rat, „wenn die körpereigene Abwehr geschwächt ist: Intraglobin“.

Sie sind alle da. Und alle wollen sie an Aids verdienen. Mit allen Mitteln. Notfalls mit Vivaldi: der Neusser Pharma -Spezialist Beecham verteilt Cassetten, auf denen Die vier Jahreszeiten mit Penicillin-Propaganda gemixt sind. Das ganze nennt sich UFO (Unterhaltung und Fortbildung). Aids -Aufklärung auf Compact-Disc - auch die ist zu haben, sogar in mehreren Fassungen (bayerisch oder liberal?) für all jene, denen das Lesen der inzwischen mehr als 200 deutschsprachigen Aids-Bücher zu beschwerlich ist.

2.Deutscher Aids-Kongreß: Draußen geiern die Firmen, drinnen spricht die neue Ministerin.

Es war der erste große Auftritt von Süssmuth-Nachfolgerin Ursula Lehr. Sie stellte sich als „Neuling auf diesem Gebiet“ vor und betonte brav die Kontinuität zur bisherigen „stabilen und tragfähigen Aids-Bekämpfung“. Auch Ausgrenzung und Diskriminierung wurden pflichtgemäß verurteilt, doch dann kamen neue Töne. Wer gegen die Angebote zum HIV-Test Stimmung mache, betreibe „ein gefährliches Spiel“. Die Testgegner, so die kaum verhüllte Drohung, sollten sich vorsehen, sonst könne nicht mehr der freiwillige, sondern bald der Zwangstest zur Diskussion stehen. Kommentar von Zuhörern: „Das hätte Rita so nicht gesagt.“ Aber es gab auch Gemeinsamkeiten. Spritzbestecke für Fixer und Kondome, beides zentrale Präventionsbotschaften, kamen in der Rede der Ministerin nicht vor.

Die Berührungsangst gegenüber dem Kondom hat Frau Lehr nicht nur mit Rita Süssmuth gemeinsam. Auch die heterosexuelle Bevölkerung tut sich hier nach wie vor schwer. Der Kieler Sexualwissenschaftler R.Wille konnte nur an die Prostituierten und an die Schwulen gute Noten verteilen.

Im großen Kollektiv der partnersuchenden 15-25jährigen Heteros rechnet er dagegen mit höchstens zehn Prozent Safer -Sex. Im „Ausnahmezustand der Liebe“ bleibe bei den Heterosexuellen der Schutz auf der Strecke. Die Ansteckungswahrscheinlichkeit für heterosexuelle Übertragungen gab Wille mit unter einem Prozent an (ein Prozent hieße, daß bei 100 Sexualkontakten mit Infizierten eine Ansteckung erfolgt). Auch in einer Freiburger Studie wurde die Ignoranz gegenüber Safer-Sex beklagt: „Die Mehrzahl unserer (HIV-positiven) Patientinnen hat Sexualkontakte mit negativen Partnern, zum Teil wechselnd, wobei nur in 30-40 Prozent ein Kondom benutzt wird.“

Die Intensivierung der Kondom-Kampagne (so es diese denn gibt) bleibt also eine wichtige Forderung, zumal Appelle an Treue und Enthaltsamkeit sowie kaltes Duschen wenig bringen. Dies machte wiederum R.Wille deutlich: Die gequälte, weil verleugnete, Sexualität und „der wilde Knabe Eros“ hätten noch immer in der Menschheitsgeschichte ihren Weg gefunden wider alle Rufe nach Enthaltsamkeit.

Ein neues Faszinosum machte auf dem Aids-Kongreß die Runde: „Unlinked Testing“. Nicht nur Karl Überla, der gefeuerte Ex -Chef des Bundesgesundheitsamtes, machte sich für diese Testpraxis stark. Eine ganze Reihe von Wissenschaftlern will auf diesem Weg Daten über die Verbreitung von Aids gewinnen. „Wir brauchen dringend ein epidemiologisches Monitoring, und wir müssen jetzt anfangen“ gab Frau Guggenmoos-Holzmann die Parole aus. Andere Teilnehmer sahen die Epidemiologie gar „geknechtet“, vom Datenschutz und von irrationalen Ängsten. Bis hinauf zum Bundeskanzler, so der Berliner Virologe Habermehl, habe man bereits über Unlinked Testing diskutiert, aber es gebe erhebliche juristische Einwände.

Unlinked Testing oder auch „blindes Testen“ bedeutet, daß aus Blutproben, die zu anderen Zwecken als dem HIV-Test entnommen werden, einige Milliliter abgezweigt und auf HIV untersucht werden. Ohne Einverständnis des ungefragten Spenders. Anonymität wird versprochen, weder dem Arzt noch dem Patienten soll das Testergebnis mitgeteilt werden. So will man Millionen von Blutproben auf HIV untersuchen. Doch die Kritiker sprechen solchen anonymen Massenerhebungen die Validität (Aussagekraft) ab. Am Ende bliebe ein Datenfriedhof, der nicht mehr aussage als die Blutspendestatistik.

Meinrad Koch, Leiter des Aids-Zentrums des BGA, hält die Datenlage dagegen „für gar nicht so schlecht“. Die Größenordnung der Verbreitung von HIV sei durch die Berichtspflicht bei freiwilligen HIV-Tests, durch die Blutspendedaten und die Tests der Schwangeren zuverlässig bekannt. Koch: „Ich kenne keine Infektionskrankheit, von der wir so viel wissen.“

Wieviel wir über Aids wissen und mit welcher Manie inzwischen Daten gesammelt werden, machte der Vortrag des Laxenburger Demographen G. Heilig deutlich. Heilig hat für die Schweiz schon mal ausgerechnet, wie viele Lebensjahre bis 1990 wegen Aids verloren gehen und wieviel Einkommen: 1,5 Milliarden Fränkli.

Dieser Blick auf Aids, bei dem die Kranken schnell zum „Patientengut“ verkommen und das Leiden zum „interessanten Fall“, hat auch auf dem 2.Deutschen Aids-Kongreß immer wieder schockiert. Die Aids-Hilfe klagte zurecht ein, daß „die psychosoziale Dimension dieser Krankheit sowie die Lebenssituation der Betroffenen fast nicht diskutiert wurden“.

Manfred Kriener