Der Eine und die vielen Stimmen

■ Ingomar von Kieseritzky („Buch der Desaster“) und Norbert Gstrein („Einer“) erhielten den Bremer Literatur- und -Förderpreis 1989 und unsern Segen auch

Sieht man einmal davon ab, daß es, sogar in der schönen Oberen Rathaushalle, etwas grundsätzlich Peinliches hat, wenn die einen Würdenträger den andern Würdenträgern erklären, bzw. durch wohlbestallte Laudatoren erklären lassen, warum sie sie zu Würdenträgern machen, dann war's bei der Verleihung der Bremer Literaturpreises durch die Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung ganz nett. Senator Franke fand einleitend in der heutigen deutschen Privilegiengesellschaft nicht genug vom „Geist der Aufklärung, aus dem revolutionäres Denken stammt“. Die Lehrerin Charlotte R. in der 24. Reihe rief dabei unter Anstrengungen ihren Zwischenruf: „Das müssen Sie grad sagen!„nicht. Beide Laudatoren, Herbert Heckmann für Ingomar von Kieseritzky und Konrad Franke für Norbert Gstrein, verströmten vergleichsweise wenig Weihrauch vergleichsweise textnah, also vergleichsweise unpeinlich.

Das müssen Sie einfach mal so schier behauptet hinnehmen, weil ich den Platz hier für die beiden Prämierten brauche. Denn die waren echtes Ereignis.

Der Hauptpreisträger Ingomar von Kieseritzky trug ungerührt und virtuos, erst beim Abgehen martialisch grinsend, eine „Dankrede“ vor, die im Stile des „Buch der Desaster“ sich des Desasters der Literaturpreise annimmt. D.h. eher des Desasters von Herrmattinger. Der fertigt nach systematischem Studium der Modalitäten der noch lohnenden Literaturpreise über 15 000 Mark ( Bremer Dotierung) systematisch ein passendes Werk an, das wiederum Ähnlichkeit mit dem Kieseritzkyschen Desaster Opus aufweist: „Endlich war die Zeit reif und Hermattinger kaufte sich für einen reibungslosen Textaustoß einen PC von Atari, samt Festplatte und Maus, und schrieb einen kritischen Heimatroman, potentiell eine katastrophale Liebesgeschichte (Liebe, Einsam

keit, Aids, sensibel bis zum Komma) und eine Portion wissenschaftlicher Prosa, inspiriert von den Poststrukturalisten.“ Das Werk wird abgelehnt und Kieseritzky schließt: „Sollte ein Werk von Hermatinger bei Ihnen, verehrte Juroren, eintreffen, so prüfen Sie es bitte ohne ideolgoischen und zeitgeistbedingten Vorbehalt mit Wohlwollen.“

Will uns der Autor etwa sagen, daß sein Werk, das ja von den verehrten Juroren preisgekrönt wurde, eine zeitgeistbedingt systematisierter Opportunismus ist oder daß - ganz im Gegenteil - nur der Nichtopportunist eine Chance auf Erfolg hat, oder - im Gegenteil - , daß, wie man's auch wendet, es im Desaster endet. Jajaja, will er sicher. Vor allem will er nichts ausgesagt haben, sondern sein spottendes Spielchen mit dem postmodernen Zeitgeist treiben, dessen Teil er selber ist und mit den Juroren außerdem, deren ergötzliche Preisbedingungen Hauptgegenstand der Kieseritzkyschen Unterhaltungssatire waren. Wenn nach Heckmann „das leise Gelächter die Lektüre des Buches unseres (sic!) Preisträgers begleitet“: das Gelächter während dieser „Dankrede“ war längst nicht mehr leise.

Und nach dem spielenden Spöttervirtuosen, dessen Stimme die Summe der Stimmen der vergackeierten ZeitgenossInnenschaft ist, kam - formal nicht weniger virtuos - die Ernsthaftigkeit in Person: Norbert Gstrein, ein 28-jähriger Mathematiker aus Tirol, der für seine Erzählung „Einer“ den Bremer Förderpreis bekam. Er sprach „Vom Reden“, begann mit dem Wort „Ich“, ein Ich, von dem nie jemand wissen wollte, was es denke, das lernte zu schweigen oder, später, mit fremder Rede zu reden; für das Gedrucktes wichtig wurde, weil es darin sah: „Es gab, was es nicht geben durfte, eine Stimme, die für sich die Welt erfand.“ Ein Ich, das deshalb schreibt, nicht redet. Wenn Gstrein allerdings sein Aufgeschriebenes redet, dann so anrührend, daß man weinen möchte. Dies Jahr hat die Jury die Richtigen erwischt. Nur die Reihenfolge hätte mir umgekehrt noch besser gefallen.

Uta Stolle