"Der graue Wolf wies den Turkmenen den Weg"

■ In Berlin leben etwa 130.000 Muslime/Zwölf der 30 Moscheen unter fundamentalistischem Einfluß

„Graue Wölfe“, anwortet Zafer, „deren Geschichte ist ganz anders.“ Zafer ist ein freundlicher Türke um die fünfzig mit graumeliertem Bart und grauen Augen. Wir sitzen uns im Versammlungsraum der „Türkischen Gemeinde e.V.“, DITIB („Diyanet Isleri Türk Islam Birligi“) im ersten Stock einer Hinterhof-Fabriketage an der Wiener Straße in Kreuzberg gegenüber. Im ersten Stockwerk über uns befindet sich die Ulu-Moschee.

„Als die turkmenischen Stämme nach Anatolien kommen“, fährt er fort, „verrennen sie sich in eine ungastliche Berglandschaft. Sie irren tagelang durch die steinerne Einöde, finden keinen Weg aus ihr. Da hören sie einen Wolf heulen. Doch der Wolf ist einsam, und er nähert sich den Menschen nicht. Er heult nur. Da werden unsere Vorväter neugierig und versuchen, ihn zu fangen. Aber der Wolf läuft vor ihnen weg. Sie folgen ihm, und plötzlich liegt das Felslabyrinth hinter ihnen. Der graue Wolf hat den Turkmenen den Weg gewiesen.“

Zafer ist islamischer Fundamentalist und türkischer Nationalist. Doch er ist kein Prediger griffiger Thesen oder gar giftiger Tiraden. Von ultraradikalen heiligen Kriegern wie Cemalettin Kaplan, dem „Khomeini von Köln“, unterscheidet ihn nicht nur seine streng sunnitische Ausrichtung, sondern vor allem seine moderate Art. Zafer ist ein Meister der ausweichend verharmlosenden Antwort. In seinem Mund wird sogar die gewalttätige Wirklichkeit der rechtsextremistischen „Grauen Wölfe“ des Ex-Obrisken Arparslan Türkesch zum vieldeutigen Gleichnis.

„Kurden? Auch die sogenannten Kurden entstammen turkmenischen Stämmen. Sind also Türken. Das 'kurdische Problem'“, Zafers Zeigefinger malt die Anführungszeichen, „existiert nur in den Hirnen kommunistisch verhetzter Menschen.“ Seine Sicht des Massenmordes am armenischen Volk: „Das war eine Organisationspanne, eine schlecht organisierte Deportation, die leider unglücklich endete.“ Doch die Verantwortlichkeit für Unglück und Bosheit der Welt teilen sich nach seiner Meinung ohnehin ausschließlich gottlose Kommunisten und Atheisten, ketzerische Freimaurer und irrgläubige Juden und Christen.

Die fundamentalistische Gruppierung „Diyanet Isleri Türk Islam Birligi“, DITIB („Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion e.V.“), der Zafer angehört, ist noch relativ jung. Erst im Frühjahr 1982 wurde sie in Berlin gegründet. Neben dem „Verband islamischer Kulturzentren e.V.“, der Anfang der 70er Jahre entstand, und der „Förderation Islamischer Vereinigungen und Gemeinden in Berlin“, einem Zusammenschluß von 17 unterschiedlichen Verbänden Anfang 1980, wobei aber die fundamentalistische Einzelgruppe „Milli Görüs (Nationale Sicht)“ dominiert. Zwölf der mehr als 30 Berliner Moscheen werden dem Einflußbereich von DITIB zugerechnet.

DITIB wird von der türkischen Religionsbehörde bzw. dem Amt für religiöse Angelegenheiten gelenkt. Dr.Altikulac, der Präsdident dieser Behörde, ist Vorsitzender des Vereinsbeirates. Auch Vertreter des türkischen Generelkonsulats in Berlin haben Sitz und Stimme im Beirat. Die seit Atatürk säkulare Türkei organisiert so praktisch das, was es eigentlich gar nicht geben darf: eine islamische Staatsreligion. Offiziell vertritt DITIB zwar einen dem laizistischen Gesellschaftssystem der Türkei angepaßten Islam. Die in Istanbul verlegten und von der „Waqf Ikhlas Publications“ ins Deutsche übertragenen Glaubensheftchen sprechen aber nichts weniger als eine laizistische Sprache.

Bezeichnend ist die Broschüre „Islam und der Weg der Sunniten“ des Dipl.-Chemikers, Apothekers, Lehrers und Obersten a.D. Hüseyn Hilmi Isik, die mir der Imam der Ulu -Moschee wärmstens empfiehlt. „Islam und der Weg der Sunniten“ ist die geschwätzige Suade eines Paranoikers, der überall nur „giftige Veränderer„“, „schädliche und schändliche Verwirrer“, „Ausrotter des Islams“ und „Beflecker der reinen Lehre“ am gottlosen Werke sieht und vor deren Einflüsterungen er seine „Moslembrüder„“ bewahren muß. „Die Feinde des Islam versuchen seit der Zeit unseres Propheten die islamische Religion zu vernichten. Auch jetzt greifen Freimaurer, Kommunisten, Juden und Christen sie durch verschiedene Pläne an.“

Doch schlimmer und verderblicher noch deuchen Isik vorsichtige islamische Reformer wie Dschamal ad-Din al -Afghani (1839-1897) und Muhammad Abduh (1849-1905). Diese Erneuerer machten den Islam zur Grundlage von Selbstbstimmung und antikolonialem Widerstand. Vor allem Abduh, Schüler al-Afghanis, trat für eine Trennung von Religion und Staat ein. Energisch wandte er sich gegen die islamische Erstarrung, wie sie sich im fundamentalistischen Prinzip des „Taklid“, der blinden Unterwerfung unter frühere Autoritäten, zeigt. „Diese Reformer sind Atheisten. Sie haben keine Religion, und um die Muslime zu Atheisten zu machen, geben sie vor, Muslime zu sein. Sie sind viel schädlicher als Juden, Christen und Kommunisten.“

Waren im Versammlungsraum von DITIB vorwiegend älteren Türken, so sind in den Räumen von „Milli Görüs“ („Nationale Sicht“) in der Kreuzberger Oranienstraße beinahe ausschließlich jüngere. Man sitzt um den Videorekorder. Das Programm: Ein „Eastern“.

Die Organisation „Milli Görüs“ ist federführend in der „Förderation Islamischer Vereinigungen und Gemeinden in Berlin“, der mehr als zehn Moscheen zugerechnet werden. Zu Beginn der 80er Jahre war die Islamische Föderation der größte fundamentalistische Verband Berlins. Auch arabische, iranische und deutsche Muslime gehören der Föderation an. Eine radikal-schiitische, iranisch orientierte Fraktion wurde 1981 ausgeschlossen. Heute hat DITIB der Föderation den Rang als stärkste fundamentalistische Kraft vermutlich bereits abgelaufen.

„Milli Görüs“, Taktgeberin der Föderation, ist im Gegensatz zum eigenem Namen nicht unbedingt nationalistisch. Der Auslandsableger von Necmettin Erbakans „Heilspartei“ fordert eine „Islamische Republik Türkei“ mit dem Koran als Verfassung und favorisiert einen Panislamismus. Die Organisation kooperiert daher mit zahlreichen fundamentalistischen Gruppen wie ägyptischen und syrischen Moslembruderschaften, afghanischen Widerstandsbewegungen und philippinischen Moros. Eine Integration von jungen Türken bzw. Muslimen in die Gesellschaft der Bundesrepublik wird strikt abgelehnt. Denn das manichäische Weltbild der Organisation versteht jede Integration nur als heillose Verstrickung in die gottlose Welt von „Imperialisten, Kapitalisten und Zionisten“. Man beruft sich auf den 29.Vers der dritten Sure des Koran: “ Laßt nicht die Gläubigen sich Ungläubige zu Freunden nehmen vor den Gläubigen, und wer das tut, hat keine Verbindung mit Allah, es sei denn, daß ihr euch vorsichtig vor ihnen hütet.“

„Schwierigkeiten gibt es auch in der Türkei nicht“, meint Mehmet auf die Frage, ob denn die Mitgliedschaft in „Milli Görüs“ mit der radikalen Absage an eine säkulare Türkei gefährlich sei. „In unserer Mutterpartei“, Erbakans Heilspartei, „war früher einmal auch Cemalettin Kaplan. Aber wir haben einen großen Verbündeten: Özal.“ Das stimmt, der türkische Regierungschef Turgut Özal war früher ebenfalls Mitglied der Partei des frommen Erbakan. „Warum ich Mitglied bin?“ Mehmet lacht. „Ich bin gläubiger Moslem., Und hier habe ich viele Freunde. Draußen bin ich allein. Die Deutschen wollen uns nicht. Soll ich mich deutschen Klassenkameraden aufdrängen? Oder betteln, um in eine Disco zu dürfen?“

In Berlin gibt es etwa 130.000 Muslime, von denen etwas mehr als 105.000 türkischer Nationalität sind. Wieviel davon praktizierende Gläubige sind, läßt sich kaum schätzen . Und wieviele davon wiederum fundamentalistschen Organisationen angehören, darüber gibt es keine zuverlässigen Zahlen. Doch eines läßt sich sicher sagen: In einer Situation der ständigen Demütigung und Isolation hat das Geschäft der radikalen Prediger Konjunktur.

wasa