Nach der Wahl Entlassungen bei SEL

■ IGM: Im Tempelhofer Werk sollen 650 Arbeitsplätze abgebaut werden / Entscheidende Aufsichtsratssitzung kurz nach der Wahl / SEL-Spandau dementiert „dramatische Reduzierung des Beschäftigungsstandes“ / Verlagerung der Sitzung wegen „terminlicher Schwierigkeiten“

Noch in diesem Jahr sollen im Werk Tempelhof des Bürokommunikations-Herstellers SEL rund 650 Arbeitsplätze abgebaut werden; damit sei der SEL-Standort Berlin von „Austrocknung“ bedroht. Um mit dieser Nachricht den Berliner Wahlkampf nicht zu beeinflussen, sei die entscheidende Aufsichtsratssitzung des Konzerns verlegt worden. Das gaben IG-Metall-Chef Horst Wagner und Günter Eller, der Betriebsratsvorsitzende des Werkes und SEL -Aufsichtsratsmitglied, gestern vor der Presse bekannt.

Nachdem im November auf einer routinemäßigen Aufsichtsratssitzung die desolate Lage des SEL -Unternehmensbereichs Bürokommunikation mit Verlusten von etwa 70Millionen Mark (für 1988) bekanntgegeben wurde, war für den 23.Januar eine Sondersitzung ausschließlich zur Situation in dieser Sparte anberaumt worden, die ohne Angabe von Gründen auf den 1.Februar verlegt worden ist. IGM-Chef Wagner hatte daraufhin von zwei „absolut vertrauenswürdigen Quellen“ aus der Vorstandsetage erfahren, daß die Verlegung intern mit dem Wahltermin begründet worden war. Der Trubel um SEL-Chef Helmut Lohr, der zwischenzeitlich unter Untreue -Verdacht geraten war und zur französischen Konzernmutter Alcatel wegbefördert werden soll, habe mit der Terminverlegung nichts zu tun gehabt.

In Berlin hat SEL noch 2.300 (1980: 3.400) Beschäftigte, davon 700 im Bereich Bürokommunikation und 250 im Bereich Bauelemente, der nach Ansicht von Eller ebenfalls betroffen ist. Schon im soeben abgelaufenen Jahr war die Belegschaft um 500 geschrumpft. Die Zahl von 650 abzubauenden Arbeitsplätzen soll sich aus 350 bis 400 Stellen zusammensetzen, die schon längere Zeit zur Streichung anstanden, und einem Überhang aus dem letzten Jahr, als eine zwischenzeitliche Terminal-Fertigung wieder eingestellt wurde, die aus Fernost nach Berlin verlagert worden war.

Wenn der gesamte Fertigungsbereich aber auf etwa 1.000 Beschäftigte heruntergefahren wird, dürfte das Tempelhofer Werk viel zu groß werden. Die „Austrocknung“ des SEL -Standortes Berlin sieht Eller schon durch eine frühere Vorstandsentscheidung angedeutet: Die digitale Vermittlungstechnik wurde nicht nach Berlin, sondern an den bayerischen Standort Gunzenhausen vergeben - „hier machen wir nur noch Blech“ (Eller).

Konzern-Tango: Im letzten Jahr hatte SEL, von ITT an Alcatel weiterverkauft, die Sparte Unterhaltungselektronik („Graetz“) nach einem Jahresverlust von 60 Millionen Mark an den finnischen Nokia-Konzern losgeschlagen. Daß jedoch auch die Bürokommunikation an ein anderes Unternehmen verkauft werden könnte, macht - so Eller, der auch SEL -Aufsichtsratsmitglied ist - keinen Sinn: Die Unterhaltungselektronik habe nicht in das Alcatel-Geschäft gepaßt, zumal dieser Markt in Frankreich durch den Konkurrenten Thomson-Brandt besetzt ist. Die Alcatel-Mutter CGE betrachte aber die Datenverarbeitung im Büro als Kerngeschäft.

Woher kommen nun die tiefroten Zahlen? Übernommen habe sich SEL beim Wettlauf mit Siemens, als beide Konzerne „Unsummen“ (Eller) in die Entwicklung der Digitaltechnik gesteckt haben; dafür blieben bei SEL Neuentwicklungen auf der Strecke. Andere entwickelten sich zu zögerlich; die Berliner Teletex-Geräte etwa wurden von Telefaxern ausgestochen, die SEL im wesentlichen von Toshiba erhält. Hinzu kommt der starke Wettbewerb in der Bürocomputer-Branche - IBM legt die Standards fest, und im scharfen Wettbewerb gehen die Preise in den Keller.

Ein letztes: Die SEL-Sparte weist zwar einen Umsatz von etwa 1,4 Milliarden Mark aus, aber mit fallender Tendenz. Der Exportanteil ist winzig: nur knappe 50 Millionen Mark. Eller: „Das macht mir angst, wenn ich an den Binnenmarkt 1992 denke.“

„Der Beschäftigungsstand wird keineswegs dramatisch reduziert“, dementierte indes eine SEL-Sprecherin. Die Zahl von 650 Stellen bezeichnete sie als „aus der Luft gegriffen“. Zur Verlegung sei es gekommen, weil Alcatel-Chef Suard „terminliche Schwierigkeiten“ gehabt habe.

diba