Scherbenhaufen Vatikan

Der junge Mann war den Wächtern des Vatikan-Museums schon mehrmals aufgefallen, als er, im Rollstuhl sitzend und mit einer Decke über den Beinen die Bilder der Galerie studierte.

Am vergangenen Dienstag erhob sich der Rollstuhlfahrer plötzlich, zog einen Benzinkanister hervor und versuchte, Raffaels Madonna die Foligno anzuzünden. Der Anschlag wurde gerade noch verhindert, der Attentäter - ein 35jähriger deutscher Tourist - kam ins Psychiatrische Krankenhaus Santa Maria della Pieta zur Untersuchung.

Tags danach ging es nicht mehr um Gemaltes, sondern um den Pontifex selber: Am Vormittag hüpfte plötzlich ein junger Engländer während der Audienz auf den heiligen Vater zu und schrie: „Ich bin der Sohn Gottes und muß deine Stelle einnehmen„; beim Nachmittagsgottesdienst in San Paolo suchte ihn ein Italiener mit dem Schrei „Befrei mich, befrei mich“ zu umarmen. Auch diese beiden werden nun auf ihren Geisteszustand untersucht.

Doch merkwürdig: So ganz ungelegen scheinen dem Heiligen Stuhl diese Attacken gar nicht zu kommen, geben sie doch den Sprachrohren des Papstes, seiner Hauszeitung 'Observatore Romano‘ bis zu „Radio Vatikan“ - Gelegenheit, die Kirche ausführlich darzustellen; mit dem wohltuenden Nebeneffekt, daß die Presseberichte über anderes, Unangenehmes im Umfeld des Papstes und seiner Kurie, kleiner ausfallen oder gar nicht erst auftauchen.

Und zu melden ist da doch allerhand. Erstmals in der Geschichte des nunmehr schon zehnjährigen Pontifikats des Papstes Wojtyla gibt es nicht mehr nur vereinzelte Proteste

-sie brechen derzeit wie eine Lawine über den Petersplatz herein, und sie kommen von ganz unten wie von ganz oben, aus dem Ausland wie aus dem Inland. Die eben bekanntgewordene „Kölner Erklärung“: „Wider die Entmündigung - für eine offene Katholizität“ ist lediglich das letzte in einer Reihe für den Vatikan immer alarmierender und teilweise auch blamabler Dokumente.

So haben in den letzten Wochen Theologen und Bischöfe geradezu rudelweise die Gefolgschaft in Fragen Empfängnisverhütung versagt - Frankreichs und Englands Episkopat ist längst mehrheitlich gegen das Verbot von Kontrazeptiva, und vorige erklärte auch die Jesuiten -Zeitschrift 'Civilta cattolica‘, daß man „eine kategorische Ablehnung künstlicher Befruchtungsregelung weder theologisch noch moralisch rechtfertigen könne“.

Kurz danach erwischte es die Kurie an einer anderen empfindlicen Stelle: ein gutes Dutzend vom Papst in den Ruhestand geschickter Kardinäle reklamierte plötzlich das Recht, bei der nächsten Papstwahl mitstimmen zu dürfen - ein zunächst eher drollig anmutender Ausbruch, ist doch der derzeitige Papst gut und gern 15 Jahre jünger als die Pensionäre. Doch der für Johannes Paul II. beunruhigende Aspekt liegt gerade darin - sie wünschen offenbar, daß der Herr ihn bald, jedenfalls noch eher als sie, abberufe.

Aber nicht nur an der theologischen und kurialen Front bröckelt es - ausgerechnet im frommen Kirchenstaat formieren sich plötzlich gewerkschaftsähnliche Bewegungen und den circa 2.000 Angestellten, die von einer „unglaublichen Ausbeutung im Vatikan“ sprechen und sogar bereits zweimal kurz vor dem Streik standen - bisher einmalig in der Kirchengeschichte. Die Bezahlung ist ihnen zu schlecht, die Altersversorgung zu mickrig, die Arbeitszeit gar „völlig ungeregelt und weit über 40 Stunden hinausgehend“ (so eine Erklärung der Angestellten). Nun sah sich der Papst vor zwei Tagen gar gezwungen, gegen seinen erklärten Willen ein eigenes „Arbeitsministerium“ einzurichten und ansonsten wesentlich bessere Arbeitsbedingungn zu versprechen.

Der happigste Brocken liegt freilich noch vor den Kirchenoberen in Rom: die Konsolidierung der Finanzen. Obwohl der Papst bereits mehrere Kommissionen berufen hat, die den vatikanischen Haushalt sanieren sollten, wird die Deckungslücke von Jahr zu Jahr größer: Bei einem Gesamtansatz von umgerechnet 80 Millionen Dollar für „Regierungsaufgaben“ (was immer das in St. Peter sein mag) und noch einmal ebensoviel für die Verwaltung des Vatikanstaates klafft derzeit ein Loch von circa 40 Millionen Dollar - Tendenz steigend. Grund dafür ist unter anderem, daß die Gläubigen bei den an Zahl ständig zunehmenden Sammlungen (so zum Beispiel im Rahmen eines Sonder-„Heiligenjahres“ 1984 und des „Marianischen Jahres“ 1986) immer weniger Geld berappen - der sogenannte „Peterspfennig“, die Kollektenabgabe, einst Haupteinnahmequelle des Vatikan, erbringt derzeit nur noch an die 60-70 Millionen Mark jährlich.

„Es geht längst an die Substanz“, klagte bereits voriges Jahr der zuständige Finanz-Kardinal Caprio. Das Mißtrauen der Katholiken ist freilich nicht unbegründet: Allzu mies haben die vatikanischen Schatzhüter in der Vergangenheit gewirtschaftet, mit Fehlspekulationen Hunderte von Millionen Dollar verloren - doch noch immer weigert sich der Papst, den dafür verantwortlichen Erzbischof Paul Marcinkus zu entlassen, obwohl der in ein ganzes Bündel krimineller Machenschaften verwickelt ist, von der Devisenschieberei bis zum Bankrott der kirchennahen „Banco Ambrosiano“ in Mailand.

Was die Gläubigen heute alles wissen oder für wahr halten, hat unlänst ein unbekannter Sprayer nahe dem Petersdom an die Wand gemalt: „Hol dir die 40 Millionen Dollar aus Polen zurück.“ Das war kein rassistisches Statement, sondern eine Anspielung darauf, daß nach Angaben des - in London kurz danach ermordeten - Chefs des „Banco Ambrosiano“, Roberto Calvi, der Papst 1980 in seinem Diplomatengepäck ebendiese 40 Millionen Dollar nach Polen geschmuggelt haben soll, um die Gewerkschaft Solidarnosc zu unterstützen.

Werner Raith, Rom