Matisse, Camembert und Chanel

■ Im Fotoforum Bötcherstraße hängen wieder neue Bilder und damit Geschichten an der Wand: Die eine Hälfte erzählt von Gisele Freund, die andere von Andreas Feininger (s.S.28)

30. Mai 1933. Frankfurt/Main Hauptbahnhof. Dunkel und regnerisch, der Bahnsteig fast leer. Ein paar Touristen steigen in den D-Zug nach Paris ein. Eine junge Frau nimmt im fast leeren Abteil der dritten Klasse Platz. „Papiere“, sagt ein SS-Mann in scharfem Ton.

Das hier ist die Geschichte von Gisele Freund. Die Geschichte einer Flucht aus Deutschland. Eine von vielen bloß. Eine, die glückt. Gisele Freund verläßt den Zug erst in Paris.

Ich mag Geschichten. Und ich schätze Fotos wegen der Geschichten, die daran hängen. Andere Leute schätzen Fotos aus ästhetischen Motiven. Das ist für die neue Ausstellung des „Fotofoums Böttcherstraße“ wahrscheinlich auch o.k.

Ich aber schluffte wegen der Geschichten auf dem immer noch leise knarzenden Parkett des „Forums“, schluffte und freute mich, weil es hell war, leer und still. So sollte man Fotoausstellung anschauen können. So kann man Geschichten denken in den ganzen Haufen Ruhe.

Geschichten von Flucht, vom Leben, von Begegnungen, Ausflüchten. Zur Not einfach die Geschichte von Gisele Freund. Freund, geboren 1912 in Berlin, emigrierte 1933 nach Paris, 1936 macht sie den Doktor in Soziologie und Kunst. Ihre Dissertation „Photographie und Gesellschaft“ gilt heute als Standardwerk der kritischen Auseinandersetzung mit den politischen Möglichkeiten von Fo

tografie. 1948 wird Freund Mitglied von „Magnum“, der großen politischen Fotoagentur mit dem humanitären Touch. Über „Magnum“ verkauft sie Bilder an LIFE, u.a. eine Reportage über Evita Peron. Die hängt im „Forum“ an der Wand - Bilder einer Dame zwischen Operettengenerälen, Zinnsoldaten, Schmuckschatullen und unzähligen Hüten. Bei Erscheinen lösten die unschuldig daherhängenden Fotos politische Verstimmung zwischen Argentinien und den USA aus, Capa, Kopf von „Magnum“ und gerade um Naturalisierung zum Amerikaner bemüht, fürchtete vor lauter McCarthy Ära, die Agentur würde samt seiner Amerikanisierung den kommunistischen Bach runtergehen, und erzwang Gisele Freunds Ausschluß. Angeblich, so Wolfgang Stemmer vom „Forum“, wegen einer Männergeschichte, was erst in den 50er Jahren als offizielle Version in die Lebensgeschichte des Foto-Helden Capa einging. Gisele Freund jedenfalls wurde 1954 gezwungenermaßen Freelance Fotojournalistin von LIFE, „Weekly Illustrated“, „Paris Match“. Fotografie als Zeitgeschichte.

Wer Zeitgeschichte so nicht mag, denkt sich seinen Teil zu den Fotos, an denen neben der Freund-Story lauter Vergangenes, Großes und Kleinpersönliches bappt: hitlergrüßende Schönlinge, demonstrierende „rote“ Studenten der 30er, Stilleben der 40er mit Lackschuhen, Chanel -Flacons, Chateauneuf und Camembert, Hinterhof und Trümmerbilder, sehr grau, sehr melancholisch, sehr

schön anzugucken unterm weich gefiltertem „Forum„-Glasdach.

„Gisele Freund hat immer sehr genau unterschieden zwischen Kunst und journalistischen Auftragsarbeiten. Sie besteht auch immer auf einer sehr rustikalen Darbietung, damit nicht hehre Kunst wird, was gar nicht so gedacht war“, sagt Wolfgang Stemmer. Was mir Frau Freund sympathisch macht.

Die Mehrzahl der Freund-Bilder sind übrigens Porträts: wichtige Köpfe aus Kultur und Gesellschaft, Joyce und Matisse und Sartre, die vorzugweise beim Verbrauch von Produkten der Tabakindustrie festgehalten wurden, und an allen hängen wieder neue Geschichten. So mag ich das.

Petra Höfer

Freund/Feiniger: Forum Bötcherstraße, 27.1.-15.3., 10-19 Uhr, Mi bis 21 Uhr