Wem die Stimme schlägt...

Visionen des „Büros für ungewöhnliche Maßnahmen“  ■ D O K U M E N T A T I O N

Am letzten Sonntag im ersten Monat des neuen Jahres war es mal wieder soweit: Die Schleusen zur Demokratie öffneten sich sperrangelweit. Ein Gefühl wie Weihnachten, Ostern und Urlaub zusammen verbreitete sich hemmungslos in allen Berliner Bürgern und Bürgerinnen. (...)

Anno 89, nach einem unerhört geistreichen, kontrovers und kämpferisch geführten Wahlkampf, verbitterte ein Wermutstropfen die Hochstimmung: Diesmal fiel die Wahl sooo schwer! (...)

So standen die WählerInnen verzweifelt vor der Urne. Flüchten oder Standhalten, das war hier die Frage. Die Entscheidung aussitzen? Sich das ureigene BürgerInnenrecht nicht abjagen lassen - oder frustriert und unverrichteter Dinge abziehen? Die Schlangen vor den Urnen wären zu bedroh

licher Länge angeschwollen, wären da nicht jene rührigen Wahl-HelferInnen emsig tä tig geworden.

In ihrer ureigensten Bestimmung, Wahl-Hilfe zu leisten, spendeten sie gerade der Gruppe der noch zwischen zwei Parteien schwankenden WählerInnen Trost und Rat: Streichhölzer mit und ohne Kopf wurden verteilt. Knobelbecher machten die Runde. Turniere im „Schummeln“ und „Schwimmen“ fanden statt; und die Wahl-HelferInnen stellten sich auch als Auszählfiguren fürs „Eene-meene-muh„-Spiel zur Verfügung.

Verwirrung und Staus bewirkten unerwarteterweise dann die Demokratie-Auskoster, im Volksmund auch „Demokratie -Lüstlinge“ genannt, die diesen seltenen Augenblick lange ausdehnten und den Akt des Kreuzens bei vollem Genuß bis zum letzten hinauszuzögern wußten. Hinzu kam der Ansturm jener entschiedenen WählerInnen, die aber penibel neben ihrem Parteien-Kreuz die Bedingungen notierten, unter denen sie dieser Partei ihre Stimme anvertrauten. Kein Wunder, daß das Stimm-Vieh sich mehr und mehr drängte.

Schlimm gebeutelt fühlten sich all die, die sich mit Boykott-Plänen quälten. Da drohte der Fluch der bisherigen ParteifreundInnen wg. dieses individuellen Akts des „Nein„ -Sagens. Da drückte der Alptraum vom „Verräter“, des „Abtrünnigen“, der dem Gegner in die Hände spielt. Qualvolle, schicksalsschwere Gewissensprüfungen, deren Abhandlung selbst in alternativen Beichtstühlen kaum unter einer halben Stunde zu bewältigen wäre!

Auch jene Minderheit wahlberechtigter Wesen, die gemeinhin als „harte Boykotteure“ gelten und akribisch-akkurat kleinste Buchstabenmengen auf kleinen Stimmzetteln zu komplexen Gedankengängen formten, sowie die „Sekte der 1.000 Kreuze“, die überall - auch in den Wahllokalen - 1.000 Kreuze als Gesinnungs-Bekennerbrief hinterließen, trugen nicht gerade zu einem zügigen Wahl-Ablauf bei.

So herrschte in und vor den Wahl-Stätten bis in die späten Abendstunden reges Treiben - und ein Ende der sich immerhin gut unterhaltenden Menschenschlangen war nicht in Sicht. (...)

Gegen Mitternacht verkündete der Landeswahlleiter das vorläufige Endergebnis: Dem Drängen der Berliner Bevölkerung nach einer Zugabe werde stattgegeben. Dem feierverwöhnten Berlin werde nach zwei Jubeljahren anläßlich des 200jährigen Bejubelns der bürgerlichen Demokratie die Verlängerung des Wahl(kampf)aktes bis Weihnachten beschwert - als umwälzendes Kulturereignis. (...)

Angelica, Barbara und Kurt