Wohlstandsindianer ärgern Hanna

■ Volks-frei-tag auch bei SchülerInnen / Aktionen aller Art, vor allem gegen Stundentafelkürzungen / SchülerInnen-Unmut überraschte alle / Laurien hilflos / Weitere Boykotte geplant

„Volks-frei-tag“ - gestern war nicht nur ein Tag der StudentInnen, sondern auch ein Tag der SchülerInnen. Trotz Zeugnisausgabe in den meisten Schulen ließen sich SchülerInnen ihren Tatendrang nicht nehmen. Die Lessing -Oberschule im Wedding zum Beispiel feierte von Donnerstag auf Freitag eine „lange Nacht“, in der sie in Arbeitsgruppen alternative Modelle zur Stundentafelkürzung, Grundlagen feministischer Forschung, Integrationsmodelle für Behinderte und antifaschistische Strategien entwickelten. Früh am Freitag morgen streiften etwa zehn von ihnen durch den Wedding und wischten Hakenkreuze und Naziparolen von den Wänden. Oder die Askanische Schule in Tempelhof: Seit Mittwoch hatte sie Aktionstage und am Freitag ein alternatives Fußballturnier unter dem Motto: „Sportlicher Widerstand - keine Kürzung der Sportstunden“. Berlinweit hatten die SchülerInnen für Freitag U-Bahn-Aktionen, Demonstrationen und eine Verbrennung von Zeugniskopien geplant. In Zehlendorf marschierten rund 300 „Kids“ zur Rostlaube.

Während der letzten zwei Monate war an fast allen Oberschulen Berlins „der Teufel los“ (Thymian Bussemer, LandesschülerInnensprecher). Streiks, Aktionen, Besetzungen, Demos, alternativer Unterricht.

Angefangen hatte es mit Beginn dieses Schuljahres. Die Ulrich-von-Hutten-Oberschule in Lichtenrade zum Beispiel streikte bereits im Juni 1988 das erste Mal, als bekannt wurde, daß in den siebten Klassen die Schülerfrequenz nahezu verdoppelt wurde durch Klassenzusammenlegung, und gleichzeitig LehrerInnen von der Schule abgezogen wurden. Schließlich kam dann noch das Asbestproblem hinzu, um den Unmut aller zu verstärken.

Der eigentliche Anlaß für die Aktivitäten der SchülerInnen aber war der Plan zur Stundentafelkürzung von Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien vom letzten Oktober. Sich durch die Tabellen durchzuquälen ist nur Fachleuten möglich, doch diese zogen recht bald das Fazit: erhebliche Unterrichtseinbußen für die zu Belehrenden. Die Schulsenatorin befand sich in einer Zwickmühle: Einerseits sollen auch die LehrerInnen in den Genuß der Arbeitszeitverkürzung gelangen, andererseits verlangt der Finanzsenator keine Mehrausgaben - keine LehrerInnen -Neueinstellungen. Und das ist schwer zu verwirklichen, denn eigentlich wären laut Berechnungen der Senatorin 710 zusätzliche Stellen nötig. Was sollte sie machen? Sie kürzte Stunden weg, um mit 190 beziehungsweise 150 (zwei Alternativpläne) Neueinstellungen auszukommen.

Aber ihr Versuch, es den Lernwilligen schmackhaft zu machen (sie sprach von einer „Verbindung“ von „Reduzierung der Lehrer- und Schülerarbeitszeit“), mißlang. Der Rahmenplan bleibt, und daraus folgern die Verplanten messerscharf: Schülerarbeitszeitverkürzung gibt es nicht, im Gegenteil derselbe Lernstoff wird in noch kürzerer Zeit absolviert werden müssen. Da bleiben noch mehr als bisher auf der Strecke. Die Schwächeren ziehen den kürzeren, dahinter wird elitäre Bildungspolitik gewittert. Als dann auch noch bekannt wurde, daß etwa 25 gesellschaftskritische Filme, die man bei der Landesbildstelle ausleihen kann, für den Schulunterricht nicht zugelassen sind, war der Ofen aus. Die SchülerInnen gingen auf die Barrikaden.

Sicher wurden sie animiert durch den Uni-Streik. Aber nicht motiviert, wie der Senat vermutete. Sicher erhielten sie die notwendigen sachlichen Informationen zur Stundentafelkürzung von LehrerInnen und Eltern (übrigens auch etwas, was die SchülerInnen störte: „Über unsere Köpfe hinweg, warum fragt man nicht uns, die Betroffenen, auch mal?“), aber ihre Lust zum Protest wurde nicht „von außen in die Schulen getragen“ (Laurien). Der Nachwuchs begann, seine jahrelang still ertragene Unlust zu artikulieren. „Mehr Mitbestimmung“ eine der ersten und wichtigsten Forderungen gleich nach „Weg mit den Stundentafelkürzungen“, die die SchülerInnen erhoben. Und dann ging es weiter: „Mehr praxisorientierter Unterricht„; „Wenn wir Demokratie üben sollen, müssen wir sie ausüben können„; „Wir wollen Vergangenheitsbewältigung antifaschistischen Unterricht„; „Ökologieunterricht„; „Alternativer Unterricht„; „Fächerübergreifender Unterricht„; „Integration behinderter LehrerInnen und SchülerInnen„; „Integration von ImmigrantInnen“ Forderungen, Wünsche, Sehnsüchte, die an fast allen Schulen in den unterschiedlichsten Formulierungen auftauchten.

Und genau damit kam Frau Laurien nicht mehr klar. Mit „sachlichen“ Argumenten gegen ihre „sachlichen“ Pläne hatte sie vermutlich gerechnet - aber mit ernsthaft gemeinten Entwürfen für eine Traumschule? Sogar Eltern und AusbilderInnen waren überrascht über die Kraft, das Durchhaltevermögen und die Vernunft ihrer Zöglinge. Wie überrascht muß man erst im CDU-Senat gewesen sein, wo man seine Zahlen besser als seine Kinder zu kennen scheint. Während LehrerInnen heimlich und ElternvertreterInnen zögerlich begannen, ihre Kinder zu unterstützen, reagierte man im Senat hilflos. Die Schulbesetzungen wurden als „Indianerspiele verwöhnter Wohlstandskinder“ (Laurien im Dezember, und sie ist bis heute dabei geblieben) eingeordnet. Die fleißigen Arbeitsgemeinschaften, organisiert von den SchülerInnen als Alternativunterricht anstelle von Streik, entlockten der Senatorin nach langem Schweigen ein „wohlwollend“, die Forderungen aber erscheinen ihr sämtlich als unerfüllbar.

Die SchülerInnen haben es geschafft, sich landesweit zu organisieren und sogar eine LandesschülerInnenkonferenz einzuberufen, die es seit fünf Jahren nicht mehr gegeben hat. Sie haben es geschafft, die Schulsenatorin zu Gesprächen zu zwingen. So führte sie zum Beispiel vergangenen Dienstag ein Gespräch mit Schöneberger SchülerInnensprechern. In einer anschließenden Pressekonferenz stellte sich jedoch heraus, daß sie um keinen Deut von ihrer Position abgewichen ist. Ob sie denn die SchülerInnen wenigstens verstehen würde, wurde sie gefragt. Wörtliche Antwort: „Verstehen, das ist eine Kategorie, die es für mich gar nicht gibt, das ist ein Liebesverhältnis.“ Sie zweifle die „hohe Ernsthaftigkeit“ der SchülerInnen nicht an, aber es gehe ihnen „doch wohl eher um Sinn des Lernens und Inhalt des Lernens“. Das Fazit, daß man dieses wohl nicht so ernst nehmen müsse, sprach sie nicht wörtlich aus.

Auch nach der Wahl werden die PennälerInnen nicht lockerlassen: Schon sind neue Aktionen geplant, so zum Beispiel an der Bettina-von-Arnim-Schule, und Thymian Bussemer erklärte am Freitag vor der Presse, man wolle im Februar an allen Schulen zu Aktionstagen aufrufen.

gebo