Gelöste Zungen

■ Ein Gespräch mit dem algerischen Rechtsanwalt Nabil Bouaita

Saeed Ramadane: Internationale Beobachter haben in ihren Analysen der algerischen Krise meist ökonomische Faktoren und weniger politische geltend gemacht. Was glauben Sie, welcher Bereich der wichtigere ist?

Nabil Bouaita: Ich denke, beides hängt zusammen. Die wirtschaftliche Krise war zu Teilen Katalysator für eine politische Krise. Die schwierigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situationen haben den Aufstand ganz sicher beeinflußt - aber sie sind nicht die einzige Erklärung.

Politisch gesehen war die grundsätzliche Forderung der Protestierenden die nach Freiheit, ganz besonders nach der, sich überhaupt äußern zu dürfen - bis dahin ein Monopol der rigiden Behördenmaschinerie, die seit der Unabhängigkeit an der Macht war.

Wie verhielten sich die Intellektuellen Algeriens, als sie mit dieser Krise konfrontiert waren?

Das kann man so generell schwer beantworten; je nach ihren besonderen Interessen, den Maßstäben, nach denen sie leben, haben unterschiedliche Kommentatoren unterschiedlich reagiert. Die Vereinigung Ehemaliger FLN-(Nationale Befreiungsfront-)Rechtsanwälte schrieb an den Präsidenten der Republik und drückte ihre Sorge über den Verlust demokratischer Freiheiten aus, der ihrer Meinung nach Ursprung des Aufstands war. Ehemalige Politiker, darunter viele sehr prominente, bedrängten den Präsidenten, den Parteitag der FNL zu verschieben, damit Hauptströmungen neuer politischer und sozialer Kräfte in den Entscheidungsprozeß über die Zukunft miteinbezogen werden können. Außer öffentlichen Demonstrationen, an denen einige teilnahmen, gab es sehr viele andere Initiativen von Intellektuellen - zu viele, um sie alle aufzuzählen.

Es entstand ein richtiger Gärungsprozeß für Ideen, übrigens Zeichen für das Ausmaß der Frustration. Dies alles wird schließlich Geschichte machen. Ich glaube, daß es einen Konsens in allen Schichten der Gesellschaft gibt, daß das, was jetzt passiert, eine grundsätzliche Infragestellung der Basis der algerischen Gesellschaft ist, und zwar trotz des verständlichen - Widerstandes konservativer Kräfte, deren einziges Ziel es ist, den Status quo zu erhalten, das heißt, ihre Privilegien.

Einige Intellektuelle, das muß man sagen, haben sich nur sehr verschämt geäußert; sie wollen offenbar nicht zu früh in hitzige Debatten verwickelt werden. Die Ereignisse haben sich zeitweise regelrecht überschlagen, und deshalb ist es natürlich auch richtig, daß man erst Abstand gewinnen will, um dann zu objektiven Analysen kommen zu können. Um so mehr übrigens, als die Berichterstattung mehr als lückenhaft gewesen ist: Die algerischen Medien wurden daran gehindert, umfassend informieren zu können. Wir waren auf ausländische Radio- und Fernsehberichte angewiesen.

Wie haben die Medien denn über die Oktober-Ereignisse berichtet?

Die Antwort darauf ist einfach: überhaupt nicht! selbst die ausländischen Medien mußten unter ausgesprochen schwierigen Bedingungen arbeiten; die algerischen Journalisten selbst waren gezwungen, passiv mitanzusehen, was sich unmittelbar vor ihren Augen abspielte*. Sie durften sich bis zehn Tage nach Beginn der großen Demonstrationen nicht auf die Ereignisse beziehen oder sie kommentieren. Siebzig algerische Journalisten brachten eine Presseerklärung an die internationalen Medien heraus, in der sie gegen diese Situation protestierten, mehr konnten sie nicht tun.

Insgesamt wurde die nationale Presse daran gehindert, eine aktive Rolle zu spielen.

Viele soziale und Berufsgruppen haben jetzt reagiert mit der Gründung unabhängiger Vereinigungen. Was sind ihre Ziele und wie verhält sich der Staat ihnen gegenüber?

Ärzte-, Journalisten-, Schriftsteller- und Frauengruppen sind entstanden, parallel zu den offiziellen Vereinigungen, die nur mit dem Segen der Behörden existieren und die von deren Vorsitzenden nur als Karriereleiter benutzt werden. Ich denke, es wäre eine gute Sache, wenn diese neuen Vereinigungen, deren erste Regel wirkliche Unabhängigkeit vom Staatsapparat ist, nicht nur geduldet, sondern unterstützt und gefördert würden. Natürlich ist es noch nicht so weit - aber das wäre eine wirkliche Probe auf den Willen zur Demokratie. Die gegenwärtige Toleranz des Staates ist zunächst nur ein „Zeichen der Zeit“.

Die neuen Vereinigungen könnten sich, wenn sie es ernst meinen, sehr schnell entwickeln. Bisher jedoch ist noch keine vom Staat anerkannt worden, so weit ich weiß.

Dennoch glaube ich, daß dieser Prozeß nicht mehr umkehrbar sein wird, selbst wenn er auf verständlichen Widerstand gewisser Kreise stößt. Apparatschiks geben ihre Bastionen niemals leicht auf... Ob allerdings die versprochenen Reformen von den Behörden effektiv durchgeführt werden, hängt tatsächlich ab von der staatlichen Reaktion auf solche Vereinigungen. Die meisten wurden während der Oktober -Ereignisse spontan gegründet; sie sind ein Barometer für die versprochene Reformpolitik. Ich denke, daß es nicht mehr so leicht wäre, die Uhr zurückzustellen und das, was hier geschieht, zu ignorieren.

Der algerische Präsident hat nach der Krise Reformen versprochen. Reichen diese Reformen aus? Werden wir womöglich Zeugen eines sich entwickelnden Pluralismus?

Meiner Ansicht nach wird es nicht so leicht sein, einen Ein -Parteien-Staat, der besonders resistent gegen Reformen ist, in ein Mehr-Parteien-System nach europäischem Vorbild zu verwandeln. Zur Zeit ist Pluralismus noch nicht auf der Tagesordnung. Zwar glaube ich, daß er in Algerien letztlich unvermeidlich sein wird, aber wenn das Tempo der Reformen durch weitere Ereignisse noch beschleunigt werden sollte, werden konservative Kräfte im ganzen Land bestimmt massiv dagegen angehen. Es wird nicht einfach sein, die verkrusteten Strukturen aufzubrechen, die Algerien 30 Jahre regiert haben.

Viele in der politischen Führung des Landes leben weiterhin mit den Dogmen der Novemberrevolution und schenken Öffentlichkeit, die zunehmend auf Wechsel drängt, keinerlei Aufmerksamkeit. Sie hinken hinter ihrer Zeit her und werden sich gegen jede Neuerung stemmen.

Was hat Ihrer Meinung nach wesentlich zu dieser öffentlichen Stimmung beigetragen, die auf eine Neubestimmung der nationalen Grundsätze drängt?

Das ist der Dreh- und Angelpunkt der Diskussion. Nahrungsmittel machen ein Drittel der gesamten Einfuhr Algeriens aus. Die Finanzen des Staates sind in einem Jahr um die Hälfte zurückgegangen, als die Ölpreise ins Bodenlose sanken. Die Geburtenrate ist eine der höchsten der Welt (3,06 Prozent jährlich). Eine der Hauptsorgen ist die Arbeitslosigkeit, die bei über 20 Prozent liegt. Diese Faktoren würden in jedem Land der Welt zur Unzufriedenheit führen. Was aber in Algerien noch dazukommt, ist, daß der Staat ein Monopol auf die Wahrheit behauptet und nicht einmal kompetenten Experten erlaubt, sich in die Lösung von Problemen einzumischen. Man kann Menschen nicht zumuten, zu leiden und ihnen dann verbieten, über ihre Leiden zu sprechen.

Was halten Sie von den Reformen, die das Staatsoberhaupt versprochen hat?

Durch das Referendum (November 1988) ist der Wunsch nach Veränderungen unterstrichen worden. Ich halte es für sinnlos, die Ernennung dieses oder jenes Kabinett-Mitglieds oder Ministers als Indikator dafür zu interpretieren, ob es jetzt Richtung Demokratie geht oder nicht.

Wir befinden uns am Anfang einer neuen Ära. Von der nationalen Presse wird endlich die Folter in diesem Land verurteilt, Gefolterte konnten endlich ihre Leidensgeschichte öffentlich zu Gehör bringen. Viele neue Organisationen haben ihre genuine Unabhängigkeit gegenüber dem Staat bereits bewiesen, die Zungen haben sich gelöst. Da ist viel Hoffnung auf Erneuerung.

Welchen Beitrag können Juristen zur Reform leisten?

Die Juristen haben die gewaltige Aufgabe, die Gesetzestexte zu ändern, die am direktesten Freiheit und Recht der Bürger bedrohen. Außerdem müssen das Strafrecht, das Presserecht und das Familienrecht geändert werden - und die Verfassung.

Selbst die Verfassung?

Ja, gerade die Verfassung würde ich sagen...

In welchem Maße?

In dem Maße, daß das Monopol der FLN-Partei auf Meinungsäußerung aufgehoben wird.

*) Die es nicht taten, riskierten viel. Ein Chefredakteur der Algerischen Preseagentur ('apa‘), Sidi Ali Denmiche, wurde bei der Berichterstattung über die Unruhen durch Soldaten getötet. Jousef Dabiya, eine Journalistin der 'apa‘, wurde verhaftet. Inzwischen gehört die neugegründete unabhängige Journalistengewerkschaft zu einem der aktivsten Verbände in Algerien. (Anm. Uta Ruge)

Nabil Bouaita ist Mitglied der Internationalen Vereinigung demokratischer Rechtsanwälte; er lebt in Paris und Algier, wo er an der Ecole Nationale d'Administration unterrichtet.