Bröckelnd

Willi Hoss‘ Kritik an Lafontaine  ■ K O M M E N T A R E

Bei der Diskussion um die Wochenend- und Wochenarbeit hat Oskar Lafontaine die Grenze vom Vordenker zum Nachplapperer überschritten. Denn mit ein bißchen Nachdenken hätte er erkennen können, daß auch heute das Recht auf freie Verfügung über die Arbeitszeit nicht gegen die gesetzlichen Einschränkungen oder gegen die Gewerkschaften durchgesetzt werden muß, sondern gegen das Interesse der Unternehmer an möglichst ununterbrochener Verfügbarkeit der Arbeitskraft. Es ist nun einmal kein herrschaftsfreier Raum, in dem sich die Auseinandersetzung über Lage und Verteilung der Arbeitszeit abspielt. Wer das nicht bedenkt und so tut, als seien die Bestimmungen zur Beschränkung der Wochenendarbeit eine unzumutbare Beschränkung individueller Freiheit und kein Schutz vor dem gierigen Zugriff der Unternehmer auf die Lebenszeit der abhängig Beschäftigten, der qualifiziert sich nicht gerade als sozialdemokratischer Kanzlerkandidat.

Natürlich gibt es unter abhängig Beschäftigten auch solche, die ein individuelles Interesse an Wochenendarbeit haben. Aber wenn es keine konfliktfreie Lösung zwischen diesen Einzelinteressen und einem überwiegenden und notwendigen gesellschaftlichen Schutzinteresse gibt, muß man sich eben entscheiden. Lafontaine tut das - zu Lasten seiner Glaubwürdigkeit auch über die Grenzen seiner Partei hinaus. Das Abrücken des Grünen Willi Hoss vom sozialdemokratischen Spitzenstar signalisiert, daß die politische Affinität zwischen sozialdemokratischen Modernisierern und einem relevanten Teil des grün-alternativen Milieus zu bröckeln beginnt.

Martin Kempe