Ungarn: Schon im nächsten Jahr freie Wahlen?

■ Spitzenpolitiker durchbricht Tabu, indem er den Aufstand von 1956 als „Volksaufstand“ charakterisiert / Wirtschaftsminister Nyers hält Koalitionsregierungen für möglich / Interview mit dem Schriftsteller György Konrad

Berlin (dpa/taz) - Bis vor kurzem gab es in der ungarischen Geschichtsbetrachtung einen weißen Fleck: Die Geschichte des Aufstandes von 1956 und die Intervention der sowjetischen Truppen durften nur in der offiziellen Version unters Volk gebracht werden. In der war es festgeschrieben, daß die „gesunden Elemente“ der Partei zusammen mit der Roten Armee „heldenhaft“ einer „Konterrevolution“ widerstanden hätten. Die Opfer des Aufstandes - unter ihnen auch viele Kommunisten - wurden in Massengräbern verscharrt, Ministerpräsident Imre Nagy, populäre Symbolgestalt des Aufstands, zur Unperson erklärt.

Kein Geringerer als der Leiter der Parteikommission, die die Nachkriegsgeschichte untersuchen soll, das Politbüromitglied Imre Poszgay, billigte am Sonntag in einem Interview den Ereignissen von 1956 den Charakter eines „Volksaufstandes“ zu, der gegen eine „kleine, herrschende Gruppe“ gerichtet war. Die damalige Diktatur habe die Arbeiter ausgeschlossen. Und die Rolle Nagys wertete Poszgay als „äußerst positiv“. Die Feststellung, daß 1956 in Ungarn ein Volksaufstand stattgefunden habe, so der Reformer in dem Interview, werde „in hohem Maße zu einer Annäherung zwischen Politik, Wissenschaft und öffentlicher Meinung führen“. Ungarn habe 1948 aus „Zwang ein sozialistisches Modell gewählt, das in eine Sackgasse führte“, setzte Poszgay noch eins drauf.

Wirtschaftsminister Reszö Nyers sprach sich in einem Interview mit der österreichischen Zeitung 'Profil‘ dafür aus, die „führende Rolle“ der Kommunistischen Partei in der geplanten neuen Verfassung nicht mehr zu verankern. „Wir sind soweit, daß wir auch ein Mehrparteiensystem für möglich halten.“ Die neuen Parteien könnten auch kapitalistische Interessen vertreten, sie müßten sich lediglich an die neue Verfassung halten“. Er persönlich könnte sich in Zukunft eine Koalitionsregierung von Kommunisten, Sozialdemokraten und der Kleinlandwirtepartei vorstellen.

taz: Das ungarische Politbüromitglied und Reformer Imre Poszgoy hat den ungarischen Aufstand von 1956 als „Volksaufstand“ bezeichnet. Hat die Bewältigung der ungarischen Geschichte begonnen?

Konrad: Sicher gibt es Erleichterungen, Familienangehörigen ist es jetzt z.B. erlaubt, ihre Toten aus den Massengräbern zu holen und würdig zu bestatten. Es gibt in letzter Zeit sogar Filme, Bücher und Zeitungsartikel, die sich mit 1956 befassen. In der Gesellschaft diskutiert man mehr über die Revolution als jemals zuvor.

Ich dachte immer, die ungarische Opposition hat sich gerade deshalb auch gegründet, weil die Diskussion über 1956 von der Partei und in der Partei unterdrückt worden war. Wenn jetzt Politbüromitglieder den Aufstand von damals als „Volksaufstand“ charakterisieren, dann ist das doch schon was.

Im Westen werden solche Äußerungen in der Regel zu hoch eingeschätzt. Die Partei versucht jetzt nur mit dem Strom der gesellschaftlichen Diskussion zu schwimmen, aber bisher gibt es noch keine offizielle Selbstkritik über ihre Rolle 1956. Noch vor einem halben Jahr rechtfertigte Grosz (KP -Chef d. Red.) in den USA die Hinrichtung von Imre Nagy. Poszgay ist zwar Leiter einer Kommission der Partei, die die Nachkriegsgeschichte der Partei untersuchen soll, für die gesamte Partei kann er aber nicht sprechen. Doch immerhin ist es jetzt möglich, daß von offizieller Seite nuanciert wird.

Erst Ende Dezember hat die 'Budapester Rundschau‘ einen ganzseitigen Artikel von Ihnen abgedruckt. Können Sie jetzt frei in Ungarn veröffentlichen?

Ja, auch im Fernsehen und im Radio hatte ich Gelegenheit, öffentlich zu werden. Viele Zeitungen und Zeitschriften haben meine Artikel abgedruckt, und vier meiner Bücher werden in diesem Jahr in Ungarn erscheinen. Inzwischen wurden über hundert Verlage gegründet, die von jungen Leuten gemacht werden, die auch Texte von mir haben wollen.

Wie fühlen Sie sich in Anbetracht dieser Situation nach all den Jahren der Einschränkung?

Es ist schon beruhigend, daß es diese Entwicklung gibt. Vollkommen ruhig kann man aber auch nicht sein. Es gibt auch viele beunruhigende Nachrichten ...

Zum Beispiel?

Es gibt eine Angst vor gewalttätigen Explosionen, die Armut wächst. Und darüber sind viele Menschen in der Gesellschaft verbittert. Aber die Entwicklung hin zu mehr Pluralität, zu einem Mehrparteiensystem ist doch sehr positiv. Das Grundgesetz wird im Dezember neu gefaßt, im Juni gibt es ein neues Parteiengesetz, im nächsten Jahr werden vielleicht schon freie Wahlen stattfinden können. Neue Parteien können sich gründen, und in der Kommunistischen Partei selbst fragen sich manche, ob es nicht am besten wäre, die Partei aufzulösen oder zu spalten, da Reformer und Konservative nicht mehr zusammen in einer Partei arbeiten können.

Interview: Erich Rathfelder