Ungarns Tabu fällt

■ 1956 nicht mehr Konterrevolution

Jahrzehntelang wurden Ungarn verfolgt, wenn sie ihre Hand auf die Wunde der Kommunisten legten und die Geschichtsklitterungen über den Volksaufstand von 1956 offenlegten. Denn die Wahrheit aufzudecken rührte an die Legitimation des Systems und wurde streng bestraft. In der von der Partei herausgegebenen zehnbändigen Geschichte Ungarns soll bis heute noch der Band über die 50er Jahre fehlen. So ist wahrlich bedeutsam, wenn der Leiter der Geschichtskommission, Poszgay, der Partei jetzt die alten Sprachregelungen von der „Konterrevolution“ zurücknimmt und den „Volksaufstand“ gegen die „Diktatur“ rechtfertigt. Seitdem die Schleusen für mehr Informationsfreiheit geöffnet wurden, war die Diskussion über diesen weißen Flecken der Geschichte nicht mehr aufzuhalten. Und die ungarische Gesellschaft hat ihre Chance genutzt: Seit Monaten wird in den Medien die Geschichte Stück für Stück rekonstruiert. Wenn der Reformflügel der Partei weiterhin seinen Einfluß auf die Gesellschaft halten will, mußte er dem neuen Bewußtsein Rechnung tragen. Poszgay hat das jetzt getan.

Auch wenn die Partei als Ganze ihr Geschichtsbild noch nicht revidiert hat, ein Anfang ist gemacht. Denn die Ankündigung des Wirtschaftsexperten der Partei, Reszö Nyers, geht über Rhetorik hinaus: Mit der neuen Verfassung das Machtmonopol der Partei aufzugeben ist nämlich eine direkte Konsequenz aus der Diskussion über die Vergangenheit. Und als solche radikal: Sie stellt die Legitimationsgrundlagen der Einparteienherrschaft zur Disposition. Wenn jetzt angekündigt wird, daß in Ungarn unterschiedliche Parteien arbeiten dürfen und sogar von künftigen Koalitionsregierungen geredet wird, dann scheint Ungarns Weg tatsächlich in eine pluralistische Gesellschaft zu führen.

Erich Rathfelder