Wählerdiktat

SPD und Alternative Liste vor der Wahl  ■ K O M M E N T A R

Der Wähler hat sich an den Parteien gerächt und ein geradezu heimtückisches Ergebnis geliefert. Ein Ergebnis, daß alle drei regierungsfähigen Parteien, die CDU, die SPD und die AL durchaus in die parteipolitische Zerreißprobe treiben könnte. Die drei denkbaren politischen Optionen nach der Wahl, die rot-grüne Koalition, die große Koalition oder die Flucht in Neuwahlen, eröffnen ein Spiel, das die bestürzten Berliner Provinzpolitiker abrupt der Herausforderung zur Größe, Vision und Charisma stellt. Jetzt könnte bitter aufstoßen, daß der geistige Horizont der hiesigen Politprovinz seit Jahren beherrscht ist von der Verwaltung des Status quo, von der Stammwählersicherung. Das intellektuelle Potential, mit dem die Metropole schamlos wirbt, hatte bislang kaum Zugang zum Getto der Parteien. Nun hat die Wahl eine linke Mehrheit, eine Mehrheit „diesseits der Mitte“ (Brandt) gebracht, die sich erst ihre inspirierende linke Intelligenz suchen muß. Wohlgemerkt: Es sind nicht die SPD-AL-Koalition und der Ist-Zustand dieser Parteien gewählt worden, sondern eine rot-grüne Vision, eine Hoffnung auf Veränderung, ein Anspruch auf große Politik. Berlin hat sich wieder als linke Stadt gezeigt, und die linken Parteien erscheinen ratlos wie in einer von der Phantasie verlassenen Steinbaukastenstadt.

Es war schon bedrückend, wie am Sonntag abend der Wahlsieger Momper gegenüber seiner „Rot-Grün!“ skandierenden Basis sich selbst zu imprägnieren versuchte. Man fragte sich, was ihn mehr schreckt, die Regierungschance oder die AL? Aber der SPD-Chef weiß genau, daß er die Rot-Grün-Vision nicht kurzerhand verspielen kann, und er kennt die Erfahrungen der großen Koalition von damals. Allerdings: Im Wahlkampf brachte er der AL nichts als Verachtung entgegen, vor allem als diese ihn mit einem Koalitionsangebot in letzter Minute quälte. Viel zerschlagenes Porzellan, aber auch Scherben von gestern. Der Widerstand der SPD gegen die AL beschränkt sich inzwischen nur auf den harten Kern des Parteimilieus und den ÖTV-Fundamentalismus, gekennzeichnet von Ressentiments, vom Verzicht auf neue Erfahrungen. Gerade deswegen ein gefährliches Potential zu innerparteilichem Boykott und Sabotage. Auf der anderen Seite hat sich die SPD mit abgewendetem Blick der AL genähert: Die Sozis sind angegrünelt, kooperieren bei den wichtigsten Problemen vom Umweltschutz bis zur Mietenpolitik. In diesen Fragen hat die AL-Fraktion aller Rotationsetappen längst die politische Verläßlichkeit bewiesen, die die SPD jetzt wieder von ihr einklagt. Außerdem: Eine erprobte rot-grüne Politik gibt es schon in dieser Stadt - die Demokratisierung des Verfassungsschutzstaates Berlin. Gleichwohl: Eine rot-grüne Koalition wird harten Streit in der SPD heraufbeschwören; ihr Verspielen aber wird die Partei in eine langanhaltende Resignation treiben. Es würde praktisch den Verzicht auf Macht bedeuten, denn nur mit der AL kann die SPD den Regierenden Bürgermeister stellen.

Die AL hat kurz vor der Wahl die SPD mit einem Koalitionsangebot austaktieren wollen; jetzt ist dieses Angebot die ernsthafte Verhandlungsfrage. Gewiß haben die Alternativen in der letzten Zeit ihre politische Programmatik entideologisiert; sie sind aber nach wie vor die Lobby des alternativen Gettos, die der Basis neben Erfolgen auch eine Mindestdosis an reiner Lehre garantieren muß. Wenn die SPD mit Abschwörverhandlungen kommt und vollwaschbare Persilscheine in der Gewaltfrage, im Verhältnis zu den Alliierten und zur Bundesbindung verlangt, ist die AL immer noch in der Lage, sich in einem Formelstreit zu verstricken und für Worte die historische Chance preiszugeben. Wenn beide Parteien aus innerem Parteiopportunismus und aus der Angst vor der nun wirklich spannenden Aufgabe zurückschrecken, in Subventionopolis die Probleme zu gestalten, die sie vorher bejammerten, bliebe die große Koalition. Die CDU will sie, verständlicherweise; die Kommentatoren trommeln schon, vor allem mit der rechten Gefahr - als ob die Weimarer Republik vor den „Republikanern“ gerettet werden müsse. Aber für die SPD wäre die große Koalition ein Unterwerfungsakt unter den Wahlverlierer. Die SPD hat in den letzten Jahren ihre 32 -Prozent-Strafe für den Filz vergangener Zeit abgearbeitet und sich Glaubwürdigkeit zurückerobert. Sollte sie durch eine unkeusche Liaison mit CDU-Politikern, immer noch zwischen Verfassungsschutzsumpf und Baumafia, diese nun wieder preisgeben? Es ist kaum vorstellbar, daß die Bundes -SPD eine große Koalition bei ihren jetzigen Wahlchancen tolerieren wird.

Immerhin ein CDU-Politiker glaubt nicht mehr an die Möglichkeit einer großen Koalition: Innenstaatssekretär Müllenbrock bedient schon jetzt vorsichtshalber den Reiß wolf. - Bleibt also die letzte Option: Neuwahlen. Da aber bei Neuwahlen nur die CDU gewinnen könnte, hätten SPD und AL alle Karnevalsorden verdient, wenn sie den Christdemokraten diese Chance ermöglichen würden. Insofern stehen die Rot -Grünen auch noch unter Erfolgszwang. Insbesondere die AL wird aus dem abschreckenden Beispiel der Hamburger GAL gelernt haben, die solange mit der SPD über ihre heiligen „Knackpunkte“ verhandelte, bis eine Neuauflage der Wahlen dem Wähler verkauft werden konnte. Die Wähler haben den Parteien den Wechsel der Politik auferlegt. Ein Wählerdiktat. Das Wahlergebnis drückt eine Sehnsucht nach Politik aus, nach großer Politik, nach der Utopie eines dritten deutschen Zustandes. In dieser Stadt sind Alternativen extremisiert: entweder Verwaltung des Status quo oder die besondere Lage als Zukunftschance, entweder Berlin am Tropf, das heißt Politik als Lobbyarbeit in Bonn, also Überleben, oder Vitalität, eine eigenständige Rolle in einem sich immer schneller verändernden Osteuropa; entweder nicht überwundene Nachkriegszeit oder Metropole in Mitteleuropa. Eine rot-grüne Koalition als neue Bedienungsmannschaft am Bundestropf ist kaum überzeugend. Nur in der Perspektive einer veränderten Ost-West-Beziehung, im Sog eines historischen Auftrags kann sie sich letzten Endes legitimieren. Beide Parteien müssen über den Schatten springen. Die Verhandlungsführer haben auf jeden Fall nicht das Recht, in der Zwickmühle politischer Identitätsrituale die Zukunft der Stadt zu riskieren. Die Nichtwähler, die drittstärkste Partei, haben schon das Mißverhältnis von Parteiengetto und Stadtgesellschaft zum Thema gemacht. SPD und AL müssen springen, aus dem Stand. Springen sie nicht, wird ihnen die Stadt noch Sprünge machen. Die Parteien stehen vor der Wahl.

Klaus Hartung