Zusammen fast 1000 Jahre alt

■ Ganz ohne Romantik dokumentiert Eberhard Fechner die Seefahrt von gestern und heute

(La Paloma, Ein Film von Eberhard Fechner, 20.15 bis 21.45 und 23 bis 0.30 Uhr, ARD) Elf Männer, alle fast 90 Jahre alt, erzählen ihre Lebensgeschichte. Das sind tausend Jahre Leben in drei Stunden Film. Geht das? Es geht.

Eberhard Fechner setzt mit seinem neuen Film eine Reihe von Dokumentationen fort, in denen er Menschen zu Wort kommen läßt, die die Ereignisse unseres Jahrhunderts als Betroffene, Mitmacher oder Ausgelieferte durchlebt haben. Die ausführliche Recherche, die Zurückhaltung des Interviewers und die aufwendigen Schneidearbeiten wurden von anderen Filmemachern oft kopiert, doch nie erreicht. Es ist nicht nur die Technik, die Fechners Filme zu einem Erlebnis macht, es ist vor allem das Gespür des Regisseurs für Themen, Motive, sein sensibler Umgang mit den Befragten und mit Geschichte.

Vor kurzem wurde Comedian Harmonists öffentlich -rechtlich ausgestrahlt. Nun folgt, in zwei Teilen an einem Abend, ein Film über Männer, die den wichtigsten Teil ihres Lebens auf dem Wasser verbracht haben. Aber ganz gleich, welche Funktion sie auf hoher See innehatten, ob Heizer, Ingenieur, Segelmacher, Koch oder Kapitän, immer sahen sie sich einfach als Teil einer Mannschaft, die durch die Notwendigkeit zusammengeschweißt war.

La Paloma räumt auf mit der klischeehaften Vorstellung von einer, ach so romantischen Segelei auf einem postkartenblauen Meer. Was in diesen drei Stunden vor unseren Augen und Ohren lebendig wird, das ist die reale Schiffahrtsgeschichte der letzten 80 Jahre. Sie waren „Moses“ auf Segelschiffen, kamen noch hinter dem Hund des Kapitäns (sofern dieser einen hatte), lernten bei längeren Flauten ohne Süßwasser auszukommen, mußten sich bei Sturm bis zu 24 Stunden täglich auf den Beinen halten. Sie fuhren auf Dampfern, Kriegs- und später Passagierschiffen. Heute braucht man Leute wie sie nicht mehr. Morgen wird es ihre Berufe überhaupt nicht mehr geben.

Alle erzählen ihre ureigene Geschichte, die teilweise durch Ergänzungen ihrer Frauen noch komplexer wird, aber alle und das ist das Faszinierende -, alle erzählen im Grunde nur eine einzige Geschichte, die Geschichte dieses Jahrhunderts.

Fechners kluge Schnittregie, die allein schon mehr als neun Monate in Anspruch nahm, läßt die Männer zeitweilig direkten Bezug aufeinander nehmen. Sie sitzen in ihren Wohnzimmern, zwischen Büchern und Fotos, alte Männer, wie man sie tagtäglich zu Hunderten sieht. Durch bloßes Zuhören gelingt es dem Regisseur, der im Film selbst nicht in Erscheinung tritt, den jetzigen Alltag dieser Menschen aufzubrechen und uns ihre Vergangenheit spürbar zu machen.

Eine der großen Stärken dieser Collage ist die Kommentarlosigkeit. Einzig eingeblendete Fotos unterstützen den Erzählfluß. Die antifaschistischen Betrachtungen des Dr.Karl Helbig (Heizer und Geologe) stehen neben den glänzenden Augen dessen, der aus Überzeugung in die NSDAP eingetreten war. No comment. Schnitt an Schnitt fügt sich ein Geschichtsstein an den anderen. Schreckliches und Glückliches wird so wiedergegeben wie es erlebt wurde: als etwas, das vorübergeht, aufeinanderfolgt, richtig ist, weil es eben so war.

Nach der Pensionierung wurde die Welt kleiner. Fechner zeigt die Männer jetzt erstmals in ihrem Leben, auf dem Friedhof, bei einem Spaziergang... Und da tritt noch deutlicher zutage, daß diese Geschichtenerzähler überall sind, wir bemerken sie nur nicht, wir haben verlernt zuzuhören, wollen nichts wissen, gehen vorüber, ohne sie auch nur anzublicken.

La Paloma ist ein mutiger Film, weil er die ZuschauerInnen zum Hören zwingt. Nichts fesselt den flüchtigen Blick. Ungeduldige könnten abschalten, doch nicht diejenigen, die sich auch nur ein paar Minuten Zeit nehmen und bereit sind, sich auf das Gehörte einzulassen. Die läßt der Film nicht mehr los. Drei Stunden nicht. Und danach noch lange nicht.

Petra Kohse