Heiß war nur die Rockmusik

■ Kurt Hübners Inszenierung des „Kaufmann von Venedig“ in Bremen

Unchain my heart - Joe Cockers Song dröhnt über die Bühne: unchain my heart, gib mein Herz frei. Haben Venedigs Yuppies Herzen? Wenn sie auf dem Rialto flanieren, in chicen Sommeranzügen posieren, sieht es nicht so aus. Verliebt? Nein, sagt Antonio, er sehe die Welt als Bühne, und als er dem Bassanio für die Eroberung der begehrten Portia Geld leiht, scheint es nur ein Spiel zu sein, das Bewegung vortäuscht, ein Spiel, das die Öde zelebrierter Selbstbespiegelung aufladen soll mit der Spannung wirklicher oder simulierter Gefühle. Ins Zentrum dieses Spiels rückt die Münze, die Bassanio wirft und auffängt; die Männer reden vom Geld in ihrem künstlichen Venedig, und die Frauen reden von Männern. Portia, auf lebensgroßem Pappmache-Pferd hereingeschoben, begehrt Bassanio, weil sie so gut zueinander passen und weil sie sich nichts schuldig bleiben werden.

Regisseur Kurt Hübner läßt keinen Zweifel: Belmont, der Ort der Frauen, ist kein illusionistisch-verstiegenes Märchenland, kein Gegenbild, sondern Hinterland der Männer, den gleichen Gesetzen gehorchend. Die Probe, die der Mann, der Portia heiraten darf, ablegen muß, indem er das richtige Kästchen wählt, auch sie dient, seitenverkehrt, nur der Bewegung des Leerlaufs. Bassanio besteht sie beiläufig, wie selbstverständlich; wichtig ist nur der Preis, der die Gleichheit der Partner ausdrücken soll: „So teuer gekauft, will ich dich auch teuer lieben“ - das prägt sich ein und bleibt.

Unchain my heart - immer wieder zerschneidet der Schrei der Rockmusik die kurzen raschen Szenen der nur gut eineinhalbstündigen Aufführung, taucht die Bühne ins Halbdunkel, wenn die SpielerInnen die wenigen Versatzstücke ihres Lebens eilig und wie tanzend umgruppieren, zwei Schiffsmodelle, ein Geländer, sieben weiße Türen, ein Orangenbaum. Die Musik zerreißt die flotte kühle Geschäftigkeit, und sie verklammert die Geschichte des Kaufmanns Antonio, der für die 3.000 Mark, Dollar oder Dukaten des Bassanio mit einem Pfund Fleisch aus seinem Körper bürgt: Gib mein Herz frei oder aber entfessele es, bewege mich! Können Charaktermasken sterben? Wird man zu ihren gepanzerten Herzen nur vordringen, wenn man sie als Pfund Fleisch auswiegt, berechenbar macht, mit immer tödlichem Ausgang? Shakespeares böse Geschichte vom Kaufmann und vom Juden Shylock, dem das Recht auf dieses Pfund Fleisch zufällt, auf diese Frage zuzuspitzen, zeugt vom Mut des Regisseurs, weil er ihr Zentrum, das Verhältnis zum Juden, nicht heraushebt als besonderen Prüfstein einer Gesinnung, die den Abstand zu Auschwitz immer nur mehr oder weniger verlogen rationalisiert oder scheinbar philosemitisch verdrängt. Der Jude Shylock ist hier nicht der unterdrückte Außenseiter, der durch den Hochmut der Kaufleute zum Unmenschen wird, so wie Erwin Piscator ihn 1963 angesichts von Auschwitz als einzig spielbar sah, und er ist auch nicht das Monstrum, das verdrängte Klischees zutage fördert und die positive Haltung zum Juden als unwahrhaftig, da aus schlechtem Gewissen entstanden, entlarvt.

Kurt Hübners Bremer Shylock (Benno Iffland spielt ihn traumwandlerisch sicher) reagiert wie Lackmuspapier auf die Gewaltstruktur des Stückes: Er ist Teil der herrschenden Logik von Geld, Männerkumpanei und Kälte, und er ist zugleich der Außenseiter, den diese Logik produziert. Das macht es ihm möglich, die Anstrengung zu zeigen, die die lässig-coole Attitude kostet, anders als die anderen Männer: Er sieht aus wie sie, nur sein ewig verkrampftes Lächeln trennt ihn, weil er um die Differenz weiß. Er macht Geschäfte wie sie, spielt das Spiel um Antonios Herz mit, doch als er Ernst machen will, im Gegenzug zur seinem Verlust von Tochter und Geld, als er fordert: „Ich will sein Herz haben“ und: „Ich stehe hier um Recht“, muß er fühlen, daß gleiches Recht niemals für alle gilt. Von Anfang an hatte er keine Chance, und das ahnte das Publikum in dieser bitterbösen und leichtfüßigen Inszenierung schon früh. Unchain my heart - Joe Cockers Stimme zum letzten Mal, während Shylock lacht und tanzt, nachdem er alles verloren hat. Ein Bild wie von Marc Chagall schiebt sich für einen Augenblick vor die Szenerie der Sieger: der ewige Verlierer, der nichts mehr zu verlieren hat, Hans im Unglück aus den jüdischen Schtetl, tanzend, fliegend, mit ewigem Leben. Die Sieger haben kein Herz, und schon deshalb wäre es gar nicht möglich gewesen, eines herauszuschneiden, Blut fließen zu lassen, zu entfesseln.

Dieser kalte Blick macht frieren, doch zugleich gelingt es Kurt Hübner, Irritation zu schüren, Zweifel zu säen in allzu einfache Erkenntnisse. Das liegt an den Frauen, Portia (gespielt von Therese Dürrenberger) vor allem: Verkleidet als Mann bietet sie sich den Männern an als Rechtsgelehrter gegen Shylock. Die Männerkumpanei läßt, als einer von ihnen, Antonio, bedroht ist, den lässig-lockeren Gestus fallen; die einzelnen werden als Glieder eines flexiblen Panzers erkennbar, als Männerbund, der die Zerstörung des anderen mit jeder Bewegung, jedem Wort vorwegnimmt. Die Frau im Männergewand macht mit, wird wie sie, und sie macht sich mehr als nur nützlich: Als „kleiner Doktor“ ist sie allein in der Lage, dem Juden so nahe zu kommen, daß sie ihn übertölpelt. Sie allein kann ihm suggerieren, sie sei wie er, weil nur sie als Frau auch die Differenz kennt, den Abstand zu dem, was sie zu sein vorgibt. Sie trennt Shylock von den anderen und seinem vermeintlichen Recht, indem sie ihm sein Anderssein vor Augen führt. Doch bei Shakespeare bleibt keine Rechnung offen: Sie bezahlt dafür, „kleiner Doktor“ gewesen zu sein (und Hübners Inszenierung beschwört bewußt den Geist eines anderen „kleinen Doktors“, den mit dem Klumpfuß nämlich). Ganz beiläufig, cool und locker, verrät ihr Mann Bassanio sie an ihr Bild vom Mann, ganz lässig geht er, gehen die Männer im Stück darüber hinweg. Gleichermaßen vereinzelt verschwinden alle hinter ihren weißen Türen, Frauen und Männer, einander gleich auch jetzt nicht, sondern fremder noch als zu Beginn. Frau und Jude markieren im Bremer Kaufmann von Venedig die Differenz zwischen den Löchern im Eis und ihrem endgültigen Zufrieren. Kalt genug ist es, heiß war nur die Rockmusik, und die verstummte mit Shylock.

Alle die, die in Bremen bei jeder theatralischen Gelegenheit auf die Knie sinken, sich dreimal verneigen und die Zauberformel vergangener Zeiten murmeln: Hübner-Ära, Bremer Stil, Hübner-Ära... - sie werden neue Nahrung finden. Vielleicht aber werden sie erlöst, denn Kurt Hübner - er lebt noch.

Lore Kleinert