piwik no script img

Pornografie und Deutscher Herbst

■ Lesung des Frauenliteraturverlages zum „Deutschen Herbst“: Liz Wieskerstrauch las, Christiane Ensslin und Margit Csenki flohen auf den Flur

„Das halte ich nicht mehr aus. Das ist ekelhaft.“ Die eine der drei Frauen, die der Frauenverlag „Zeichen und Spuren“ zur Lesung über den „Deutschen Herbst“ geladen hatte, Margit Csenki, bahnte sich den Weg aus dem überfüllten Ambiente zum Treppenflur. Ursache war der Text „Welche Wahrheit“, den Liz Wieskerstrauch, Autorin von „Zeichen und Spuren“ gerade vorlas. In dem Text fühlt sich die Erzählerin in das körperlich-gedankliche Innerste einer Frau ein, auf deren Brust vier Messerstiche vernarbt sind, das überlebende RAF -Mitglied von Stammheim, Irmgard Möller. Nach Margit Csenkis Flucht las Liz Wieskerstrauch ohne Zögern und Frage weiter. Die Moderatorin Elfie Hartenstein, Gesellschafterin von Zeichen und Spuren, schwieg. Den Wunsch einer Zuhörerin nach Unterbrechung beantwortete eine andere: sie könne ja rausgehen. Dieser Empfehlung folgte einen Augenblick später die dritte für die Lesung Eingeladene, Gudrun Ensslins Schwester Christiane. „Man muß ja nicht in jede Scheiße tappen“, sagte sie so leise wie schwäbisch unmißverständlich, als sie sich neben eine Margit Csenki setzte, der im wörtlichen Sinne übel war. Christiane Ensslin hat das Kölner Komitee gegen Isolationsfolter mitbegründet, besucht Inhaftierte. Margit Csenki hat 5 Jahre für, wie sie sagte, „Bankraub mit politischem Hintergrund“ im Gefängnis gesessen und über letzteres den Film „Komplizinnen“ gedreht. Sie kennt Irmgard Möller, mit einer Hamburger Gruppe hält sie Kontakte, die Isolation von „Terroristen„-Häftlingen durchbrechen sollen.

Liz Wieskerstrauch las bis zum Ende. Die beiden vom Flur kamen wieder herein und begründeten ihren Protest. „Schamlos“ nannte Csenki Wieskerstrauchs „Befummeln einer Person, damit sich andere einen runterholen.“ Da werde eine „zum Objekt gemacht“ von Gefühlen, gegen die sie sich nicht wehren könne, ohne „Respekt vor der Person“, zudem einer, die noch lebe.

Zu den vehementen Vorwürfen sagten kein einziges Wort: die Autorin, die Moderatorin, das Publikum. Margit Csenki las noch einen Aufruf, der Freilassung der Erkrankten und Zusammenlegung der Inhaftierten verlangt. Christiane Ensslin las eine Reflexion über ihre Ungewißheit, sich der Wahrheit mit den Kampfbegriffen Mord, Selbstmord,

Folter zu nähern. Dann ein paar Fragen an Csenki und Ensslin. Zu ihrer Skepsis gegenüber der Amnestieforderung, Csenki: „Ich halte das für Entmündigung, wenn wir was wollen, was die Inhaftierten noch gar nicht wollen.“

Uta Stolle

Welche Wahrheit, aus: Lesebuch Schreibende Frauen, hg. von Anne Brink u.a.,1988. Auszüge: Noch immer die Nacht im Sinn. Das Gewesene. Das Frühere. Bloß nicht das Jetzt. Vergessen. Wenn nur die Narben nicht wären. Die Hände fuhren von den Beinen über die Leisten hinauf zu den Brüsten. Zögerten. Ruhten auf dem Bauch. Wollten weiter. Suchten die Rundung. Wollten Weiches, Sattes fühlen, fürchteten die Narben. Fuhren

trotzdem hinauf.(...)Hand fühlte zarten Hügel, strich um die Spitze herum. Finger - langsam - langsam - legten sich auf den kleinen Teller des Busens, warteten, wagten nicht, wollten doch, waren neugierig, begierig, ach so gierig auf Haut, hielten nicht still, stürzten ab. Wie immer. Jedesmal. Zwei Fingerkuppen mit ihren verräterischen, in den Polizeiakten festgehaltenen Rillen, zwei Finger gerieten in die Falten, rauhe Haut, krustige empfindungslose Narbenränder, wuchernd wie wulstige Lippen, häßliche Krater auf Mondlandschaft. Finger bleiben dort, tasten über drei längliche Gruben, begriffen nicht, begriffen noch immer nicht: Warum diese Unebenheiten auf glattem Fleisch?...

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen