Warum ein Kanarienvogel nicht hinter Gitter darf

Ein Pfund Vogelfutter im Mannheimer Gefängnis beschäftigt Anstaltsleitung und Gerichte / Ein Gefangener darf sich erst einen Kanarienvogel in der Zelle halten, wenn er den Lebensunterhalt für das Tier selbst erwirtschaftet  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Was hat eine Tüte Vogelfutter mit einem hehren Gut zu tun? Im Prinzip nichts, in Wirklichkeit aber doch eine ganze Menge - zumindest sofern es sich um Gefängniswirklichkeit handelt. Wie sonst ist zu erklären, daß der Strafgefangene Joachim R. in der Mannheimer Justizvollzugsanstalt seit nunmehr sechs Monaten im Streit mit der Anstaltsleitung liegt. Der Vorgang füllt inzwischen eine dicke Akte. Außer der Mannheimer Anstaltsleitung waren mittlerweile diverse Beamte, Justizangestellte und Schreibkräfte des baden-württembergischen Justizministeriums mit der diffizilen Angelegenheit beschäftigt. Eine Strafkammer des Mannheimer Landgerichts saß darüber zu Rate, und die Kosten dieses Streits liegen inzwischen bei etlichen hundert Mark.

Gegenstand dieses monatelangen Rechtsstreits ist nichts Geringeres als eine rund ein Pfund schwere Tüte Körner, die ein Kanarienvogel nach zoologischen Erkenntnissen im Monat verfrißt. Kostenpunkt: maximal vier Mark. Wegen dieser Summe verweigert die Justizvollzugsanstalt Mannheim dem Gefangenen Joachim R. seit August letzten Jahres die Haltung eines Kanarienvogels in seiner Zelle.

Seit 1986 sitzt Joachim R. in Haft. Bis 1995 wird er dort noch hinter Gittern bleiben müssen und wünscht sich deshalb ein Haustier, das ihm die Isolation in der Zelle erleichtern soll. Ein Kanarienvogel sollte es sein, und den wollte er auch selbst kaufen. 30 Mark aus dem Eigengeld des Gefangenen gab die Anstaltsleitung im vergangenen August auch für den Ankauf des Tieres frei, doch damit begann das Dilemma. Gegen den Vogel hatte man amtlicherseits zwar nichts einzuwenden, aber die monatlichen Futterkosten für das Tier, die sollte R. „aus Gründen der Gleichbehandlung mit anderen langstrafigen Gefangenen“ selbst übernehmen. Doch das, so glauben inzwischen alle mit dem Rechtsstreit beschäftigten Instanzen, könne der Gefangene nicht mit hinreichender Sicherheit garantieren. Exakt 2,55 Mark Eigengeld und 1,26 Mark Überbrückungsgeld, rechneten die Bürokraten penibel aus, blieben dem Gefangenen nach Kauf des Vogels von seinen kläglichen Ersparnissen nur noch übrig, und für diese Summe läge ohnedies schon ein Pfändungsbeschluß vor. Ohne Geld kein Vogelfutter und ohne Futter kein Vogel, kombinierte die Anstaltsleitung messerscharf und lehnte R.s Antrag ab. Zwei Monate später, im Oktober, beschäftigte sich auch das baden -württembergische Justizministerium - man schrieb das Aktenzeichen 4514 E-506/87 - mit dem Vogelfutterstreit. Auch den Herren im Ministerium erschien die finanzielle Belastung von rund vier Mark Futterkosten im Monat zu hoch, schließlich fürchtete man eine Kostenlawine, wenn demnächst alle Gefangenen die Verköstigung ihrer Zellentiere auf Staatskosten verlangten. Um der Gerechtigkeit und der Gleichbehandlung willen wurde R.s Antrag negativ beschieden, nicht ohne die bei jeder amtlichen Entscheidung nötige Rechtsmittelbelehrung.

Im November dann wurde der Vogelfutterstreit ganz hochoffiziell. Im Namen des Volkes urteilte die 18.Kammer des Mannheimer Landgerichts: „Dem vorbezeichneten Antrag des Gefangenen auf Erteilung der Erlaubnis der Vogelhaltung wird nicht entsprochen.“ Zusätzlich zu den Futterkosten nämlich, so argwöhnte die sparbewußte Mannheimer Strafvollstreckungskammer, könnten ja noch ungeahnte Folgekosten in Form von Tierarzthonoraren im Krankheitsfalle des gelben Vogels entstehen. Da half es nichts, daß Joachim R. den Richtern versicherte, Bezugspersonen von außen könnten ihm sehr wohl das Futtergeld für seinen Vogel zukommen lassen. Doch diese Versicherung, so meinte das Gericht, sei „nicht ausreichend belegt“ und somit das Finanzrisiko für das Land Baden-Württemberg zu hoch. Erst dann, wenn der Gefangene durch eigene Arbeit innerhalb der Justizvollzugsanstalt den Lebensunterhalt seines Kanarienvogels erwirtschafte, sei die Tierhaltung zu gestatten.

Da Joachim R. nicht lockerläßt, wird der Vogelfutterstreit nun in die nächste Instanz zum Oberlandesgericht gehen. Spätestens dann werden die Gerichtskosten so hoch sein, daß Joachim R.s nicht vorhandener Kanarienvogel davon mehr als zehn Jahre in Saus und Braus leben könnte. Wenn der Streit dann noch weitergeht, wird man dem kleinen Tier für die entstandenen Gerichtskosten sogar einen Herzschrittmacher einsetzen lassen können. Aber wie gesagt, es geht ja ums Prinzip, und das hat mit Schikanen im Gefängnisalltag nichts zu tun.