: Geheimtips gegen Theaterkrise
■ „Theater des Zorns und der Zärtlichkeit“, herausgegeben von Emmanuel Bohn und Siegmar Schröder
Petra Kohse
Wer sich mit den Alternativen zur Staatstheaterpraxis auseinandersetzt, begibt sich notwendig in die Gefahr, beliebig zu werden. Andererseits wäre es eine Sisyphusarbeit, alle bestehenden Projekte allein eines einzigen Jahres aufzulisten und zu dokumentieren, und auch wenn ein unbedingter Bedarf nach einer solchen Leistung besteht - es ist unmöglich. Mitautor und Mitherausgeber Emmanuel Bohn sieht sich daher „in der Rolle des unbeteiligten Flaneurs, der sein Ziel dem Zufall überläßt“, und versteht den vorliegenden Band vorsichtig als den „ersten Zwischenbescheid“ eines Streifzuges durch die bundesrepublikanische Landschaft des experimentellen Theaters.
Viele der Texte entsprechen Vorträgen, die bei einer Fachtagung im Rahmen des „Reisenden Europäischen Theaterfestivals Freier Gruppen“ im Juni 1986 in Bielefeld gehalten wurden. Das Konzept war, diese Beiträge durch Gespräche mit einzelnen Künstlern beziehungsweise Gruppen schlüssig zu ergänzen und dem Ganzen noch einen theatergeschichtlichen Überbau zu verpassen. Doch diese Rechnung ging leider nicht ganz auf. Qualitative Unterschiede der Autoren, ärgerliche Selbstdarstellungen einzelner und die eklatante Zusammenhanglosigkeit von beispielsweise Pasolinis Theorie über ein „revolutionäres“ Worttheater mit der Gesamtfragestellung lassen es mühselig werden, zu den relevanten Punkten des Buches vorzudringen.
Am Anfang steht die Frage, warum und inwiefern die bestehenden Theaterinstitutionen verändert werden müssen. Seit Ende der sechziger Jahre wird auf jeder theatertheoretischen Veranstaltung über die Krise des Theaters diskutiert, und auch die FeuilletonistInnen beklagen diese nach jeder Premiere aufs neue, aber wie läßt sich denn nun die Krankheit beschreiben, die aus einer moralischen Anstalt ein kulturelles Schoßhündchen gemacht hat? Fast jeder Autor gibt hierauf eine Antwort, fast jeder eine andere. Von dem Anachronismus der Existenz eines Musentempels im Zeitalter der Massenmedien ist da die Rede, von der einengenden Maschinerie eines produktionsorientierten Theaters, das der individuellen Schauspielerentwicklung keinen Platz mehr läßt, von der Unfähigkeit, ein Publikum zu erreichen, und von vielem mehr.
Seit über 20 Jahren wird das Off-Theater als Wunderwaffe im Überlebenskampf der Theaterarbeit gehandelt. Ausgehend von den politisch motivierten Gruppen in Amerika, beispielsweise dem Living Theatre, gab es auch in der Bundesrepublik einen Boom sogenannter Workshops, in denen alltagsmüden StudentInnen, Lehrlingen oder generell Schauspielwilligen mehr oder weniger neue Wege der Selbsterfahrung eröffnet wurden. Viele TeilnehmerInnen formierten sich im Anschluß an ein solches Seminar zu freien Gruppen. Da es aber keine festgelegten Ausbildungsprogramme oder gar Schulen für das experimentelle Theater gibt, müssen sich die Gruppen entweder auf die Suche nach einem „Meister“ machen und dabei einen Urwald unerprobter Möglichkeiten durchforsten oder versuchen, autodidaktisch voranzukommen.
Emmanuel Bohn sprach mit zwei Gruppen, die unterschiedliche Wege gewählt haben. Im Dokumentarteil des Bandes werden diese Gespräche durch Arbeitsbeschreibungen und Kritiken noch ergänzt. Beim Theaterlabor Bielefeld steht die Entwicklung der individuellen Schauspielerarbeit im Vordergrund, und erst in einem weiteren Schritt werden die erarbeiteten Rollen aufeinander bezogen. Das Ziel ist, eine Gruppendynamik zu erreichen, ohne die Einzelimpulse zu homogenisieren.
Das deutsche Projekt La otra orilla konzentriert sich im Gegensatz dazu auf den peruanischen Lehrer Carlos Cuevas. Diese Gruppe hat sich eindeutig einem Meister verschrieben. Die Ensemblemitglieder halten kollektive Arbeit auf Dauer nicht für sinnvoll. Auch streben sie selbst langfristig eher Einzelkarrieren an. In Bielefeld steht die psychologische Erfassung einer Rolle an erster Stelle, bei den otras orillas der Umgang mit Lauten, Symbolen, Körperausdruck.
Leider werden die Gruppen nicht zu den etablierteren Künstlern George Tabori und Patrice Chereau befragt, die zuvor ausführlich über ihre Arbeit plaudern. Zum Thema experimentelles Theater außerhalb der Institution läßt sich aber auch nur Tabori eine, allerdings vernichtende Bemerkung entlocken: „Die formalen Experimente sollte man den Großen überlassen, die machen das sehr gut und bekommen auch viel Applaus, ob das nun der Zadek oder ein anderer ist...“ Angst vor nicht kategorisierbarer Konkurrenz oder schlichtes Desinteresse? Die Herausgeber gehen dem nicht weiter nach, und so gelingt es nicht, einen Bezug der „Großen“ auf die „Kleinen“ oder umgekehrt herzustellen. Das ist eine vertane Chance.
Spätestens nach der Hälfte des Buches drängt sich der Eindruck auf, daß die Theaterkrise (in die jetzt auch die freien Theater einbezogen sind) ein spezifisch deutsches Problem zu sein scheint. „Den deutschen Gruppen fehlt eine (...) kulturelle Identifikation, und so scheinen sie unpolitisch und auf der Suche nach ihrer eigenen kulturellen Identität. Warum fällt es so schwer, unsere heutige Situation theatralisch zu reflektieren?“ (Siegmar Schröder). Ja, warum? Zu dem Ausbildungsproblem und dem Medienzeitalter kommt sicherlich noch hinzu, daß sich die alternativen Theatermacher nicht mehr, wie noch vor 15 Jahren, gegen gesellschaftliche Tabus und eindeutige Feindbilder durchsetzen müssen und so mehr und mehr in den Verrenkungen des jeweiligen Körpertrainings zu versinken drohen. Den Gruppen in europäischen Nachbarländern scheint es nicht ganz so schwer zu fallen, einen eigenen Weg zu finden. Das walisische Projekt Brith Gof, das polnische Teatr Osmego Dnia oder Leo Bassi aus Italien haben zwar extrem unterschiedliche Arbeitsmotivationen, finden aber jeder für sich eine Alternative zum bestehenden Kulturbetrieb. Bassi beispielsweise, der italienische Tausendsassa, sieht seine Aufgabe darin, „die kommerzielle Welt nicht sich selbst zu überlassen, denn wir könnten die Kontrolle darüber verlieren, wo die Mehrheit hinstrebt, und das könnte auch der Faschismus sein“. So versucht er dem Freizeitbedürfnis der Massen mit Spaß-Performances zu entsprechen und sucht sein Publikum da auf, wo es ist: in Freibädern, bei Fußballveranstaltungen, im Kaufhaus. Er wirft mit Torten, führt das Motorendröhnen einer Rockergang zu einem Orchester zusammen... Er verwendet den Geschmack der Masse für sich. Daß dies die deutsche Fachtagung nicht einfach so hinnehmen kann, ist ja klar, und so wurde im Anschluß an Bassis Beitrag über das traditionelle psychologische Theater einerseits und volksnahe Eulenspiegeleien andererseits diskutiert. Ähnlich wie Brith Gof besinnt sich das italienische Kinder- und Jugendtheater teatro del sole auf die eigenen kulturellen Ursprünge, die in diesem Fall in der griechischen Mythologie liegen. Bei den Kindern kommen die teilweise dunklen und schweren Stücke sehr gut an, Probleme gibt es allerdings mit Lehrern und Eltern, die immer glauben, die Kinder verstünden das alles nicht und wollten sich im Grunde nur amüsieren.
Die Auseinandersetzung mit Theaterpädagogik und Jugendarbeit wird übrigens sehr grundlegend und informativ durch einen Artikel von Angelika Laubscher eingeleitet und durch die nachfolgenden Beiträge komprimiert und umfassend ergänzt. Ähnliche Erfahrungen wie das teatro del sole hat auch das bekannteste schwedische Kinder- und Jugendtheater Unga Klara gemacht. Die künstlerische Leiterin Suzanne Osten konfrontiert ihr junges Publikum mit all den Themen, die sie selbst interessieren und macht auch schon mal ein Stück über den Faschismus. Entgegen der allgemeinen Erwachsenenansicht ist sie davon überzeugt, daß die Geringschätzung des kindlichen Bewußtseins ein Irrtum ist, der sich aus der Unfähigkeit ableitet, mit Kindern und damit eigentlich mit sich selbst etwas anfangen zu können.
Die Theaterarbeit in anderen Ländern scheint in der Zielsetzung und Programmatik sicherer zu sein als inländische Projekte. Ist das wirklich durchgängig so? Und warum? Dies wird leider nicht untersucht. Doch zurück zu den bundesrepublikanischen Off-Theatern. Als Randerscheinungen wuchern sie in jeder Stadt, können aufgrund materieller Unsicherheit keine qualitative Kontinuität garantieren und verschwinden dadurch auch häufig so schnell von den Bühnen, wie sie sich diese erobert haben. Der Kontakt der spiel- und experimentierfreudigen Alternativprojekte mit den staatlichen Schauspielschulen könnte einen Ausweg aus der diffusen Situation bieten, doch gibt es viele Berührungsängste, und überdies stehen dafür weder Mittel noch Räume zur Verfügung. Nein, wo man auch ansetzt, die freien Gruppen, dieser Silberstreif am grauen Theaterhorizont, lassen sich weder klassifizieren noch institutionalisieren, sondern nur, und sei es wie eine Fata Morgana, erleben.
Noch eine andere Erscheinung wird von den findigen Szeneforschern aufgegriffen, über die man in keinem überregionalen Feuilleton etwas liest: Kulturarbeit in der Provinz. Dieser Beitrag von Angelika Laubscher und Emmanuel Bohn könnte für viele potentielle LeserInnen wirklich ein Stück Neuland sein. Außerhalb der großstädtischen Irrungen und Wirrungen existiert nämlich ein Umgang mit Theater, der jenseits jeglicher Profilneurosen angesiedelt ist. Am Beispiel des Brechener Dorftheaters wird dokumentiert, in welcher Weise eine Laiengruppe die regionale Theatertradition weiterführt und gesellschaftliche Aufklärung betreibt. Mit dem Stück Sein Blut komme über uns - Requiem im Schatten der Nacht wurde der Alltag im Brechen der NS-Jahre thematisiert. Ob diese Offensive auch im vollen Ausmaß verstanden wurde, kann noch niemand sagen. Aus den Erfahrungen mit früheren Stücken weiß man jedoch, daß Reaktionen auf provozierende Aufführungen erst nach jahrelanger Bedenkzeit erfolgen. Immerhin, daß überhaupt eine Konfrontation bewirkt werden kann, muß für Theatermacher eine erhebende Erfahrung sein. Angesichts der urbanen Reizüberflutung ist es ja schon fast unmöglich geworden, ein Feedback zu erhalten.
Die Krise des Theaters als gesellschaftskritische Institution und als bewußtseinsbildendes Medium ist am Ende des Buches natürlich noch immer nicht ergründet, so sehr sich vor allem die Teilnehmer der Fachtagung auch darum bemühen. Aber dadurch, daß die Herausgeber des vorliegenden Buches einzelne oder Gruppen zu Wort kommen lassen, denen es gelungen ist, neue Inhalte und Formen umzusetzen und einen Sinn in ihrer Arbeit zu finden, wird zumindest dem allerorten proklamierten Niedergang des Theaters auf erfrischende Weise widersprochen.
Manchmal fällt es schwer, das Wesentliche der jeweiligen Arbeit aus dem Wust von Randbemerkungen herauszufiltern, aber spätestens nach der nichtöffentlichen Diskussion des deutschen Bühnenvereins von 1969 hat man genügend Routine, die Spreu vom Weizen zu trennen.
Theater des Zorns und der Zärtlichkeit, von Emmanuel Bohn und Siegmar Schröder (Hrsg.), Theaterlabor Bielefeld, Lerchenstraße 60a, 4800 Bielefeld 1, 1988, kartoniert, 371 Seiten, 24,80 DM
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