Zwischen WSV und HBV

Winterschlußverkauf bringt gesteigerte Umsätze für den Einzelhandel und erhöhte Belastungen für die VerkäuferInnen  ■  Von Martin Kempe

Berlin (taz) - Die Warenhauskonzerne gaben zu Beginn des diesjährigen Winterschlußverkaufs am letzten Montag durchweg zufriedene Erklärungen ab. Das Geschäft laufe gut, meinten sie, besser sogar als im letzten Jahr. Allein im Hamburger Alsterhaus am Jungfernstieg sind im Laufe des ersten WSV -Vormittags am Montag über 5.000 Meter reine Seide über den Tresen gewandert. Vor den Toren des Berliner Kaufhauses des Westens hatten sich schon eine halbe Stunde vor Geschäftseröffnung mehrere hundert Menschen angesammelt, um als erste das Kaufhaus zu stürmen. Ein Münchner Kaufhaussprecher berichtete: „Bei uns herrschte schon am frühen Morgen ein einziges Gedränge und Geschiebe“.

Was den KundInnen ein Paradies, kann den VerkäuferInnen zur Hölle werden. Winterschlußverkauf, das bedeutet für viele von ihnen, besonders in den am heftigsten belagerten Bekleidungsabteilungen, eine Woche lang Überstunden, gesteigerte Hektik, vielfach ungeduldige, unfreundliche Kunden, ständiges Stehen und Pausenausfall. Winterschlußverkauf, das ist die „Horrorwoche“ im Jahr, sagt eine 39-jährige Karstadt-Verkäuferin, die mehrere chaotische Wühltische in der Abteilung Herrenbekleidung zu betreuen hat: „Schlimmer als vor Weihnachten.“ An irgendwelche Freizeit-Aktivitäten am Feierabend wäre auch dann nicht zu denken, wenn es nicht die beiden Kinder zu Hause gäbe: „Da bist du einfach fertig“, meint sie.

Die 2,3 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel, meint die zuständige Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), gehören nicht nur zur Weihnachtszeit oder beim Winterschlußverkauf zu den am meisten belasteten Berufsgruppen. Eine Kassiererin im Supermarkt, die den ganzen Tag an ihrem meist zugigen Arbeitsplatz die nie abreißenden Kundenschlangen abarbeitet, schiebt stündlich zwischen 90 und 120, in Spitzenzeiten wie am Sonnabendmorgen sogar bis zu 250 Kilogramm an ihrer Kasse vorbei - das alles bei höchster Konzentration, denn jeder Fehler in der Schlußabrechnung geht zu ihren Lasten. In den Kaufhäusern ist die Hektik an den Kassen häufig nicht viel geringer, nur müssen die Verkäuferinnen dabei auch noch den ganzen Tag stehen. Die hohe Belastung wird gleichzeitig schlecht honoriert. Während in der Industrie im letzten Jahr durchschnittlich 4.210 Mark verdient wurden, waren es im Einzelhandel nur 2.741. Eine Verkäuferin verdiente 1988 im Schnitt sogar nur 2.169 Mark, bei ungünstigeren Arbeitszeiten: Samstagsarbeit ist die Regel, und an den anderen Tagen gibt es erst dann Feierabend, wenn die übrige Bevölkerung bereits zu Hause am Küchentisch sitzt.

Die Einkommensbenachteiligung, eine weitere Arbeitszeitverkürzung, die tarifliche Regelung der Arbeitszeitstrukturen und die im Einzelhandel besonders wichtige tarifliche Absicherung der Teilzeitarbeit stehen im Mittelpunkt des Forderungskatalogs der HBV für die diesjährige Tarifrunde im Einzelhandel. Außerdem will die HBV, als Abwehrmaßnahme gegen den von der Regierungskoalition geplanten „Dienstleitungsabend“ (Verlängerung der Ladenöffnungszeiten am Donnerstag bis 21 Uhr) das Arbeitszeitende um 18.30 Uhr tariflich festschreiben. Mit einigen Kaufhauskonzernen und Ladenketten sowie in einigen Bezirken ist das bereits gelungen, weil die großen Einzelhändler der Koalitionsinitiative selbst skeptisch gegenüberstehen.

Die Gewerkschaft geht davon aus, daß die Tarifauseinandersetzung in diesem Jahr nicht konfliktfrei ablaufen wird. Vor allem die weitere Arbeitszeitverkürzung schmeckt den Arbeitgebern nicht, und in die Arbeitszeitgestaltung wollen sie sich nicht reinreden lassen. Die HBV geht jedoch davon aus, daß sie im DGB nicht alleinsteht. Von den rund 4 Millionen Beschäftigten, die in diesem Jahr von Tarifbewegungen erfaßt werden, arbeiten allein 2,9 Millionen im Organisationsbereich der HBV. Insofern, so der neugewählte HBV-Vorsitzende Schwegler, könne der DGB seine ganze Kraft auf die im Frühjahr anstehende Tarifrunde im Einzelhandel konzentrieren.