EIN STÜCK STAHL

■ Norbert Kricke in der Galerie Nowald

Wenn man mit einem Zentimetermaß bewaffnet einen Raum ausmißt, kann man ziemlich verläßlich angeben, wie breit, wie lang, wie hoch er ist. Man kann, wenn der Raum nicht gerade ist, die Zierleisten am Boden abziehen, und wenn die Decke Stuck besitzt, wird auch dies das Raummaß dezimieren. Wenn man will, kann man zu seinem Vergnügen auch die größte Strecke ausrechnen, die Diagonale. Dann weiß man schließlich alles und kann sich damit zufrieden in den Sessel zurücklehnen oder sein Wissen Schwarz auf Weiß oder nur im Kopf nach Hause tragen.

Norbert Kricke, 1922 in Düsseldorf geboren, in Berlin aufgewachsen, zur Schule, zum Gymnasium gegangen, im WK II drei Jahre Flieger, 1946-47 Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin, zieht anschließend nach Düsseldorf, um seine internationale Karriere als 'Raumplastiker‘ mit 'Verlaufsfiguren‘ zu beginnen. Diese bringen ihm internationalen Ruhm und Ehren ein, Teilnahmen an der Dokumenta II und III, Austellungen von Los Angeles bis New York, Wassergestaltungen für den Universitätsneubau in Bagdad in Zusammenarbeit mit Walter Gropius. Nur in Berlin wurde sein Werk noch nicht vorgestellt.

Passend zu seinem plastischen Werk, wird in der Galerie Nowald, die konzipiert ist für Einzelstücke in einem Raum, die 'Raumplastik Weiß 1975/VI‘ vorgestellt.

Ein kleiner, bescheidener Rahmen für ein kleines Stück Kunst, eine Stange Stahl, weiß. Kommt man in den Raum der Galerie, blickt man auf dem Boden entlang, im rechten Winkel, der keine Spitze, sondern Bogen ist, nach rechts, und wieder im rechten Winkel, der selbstverständlich wie der erstere ein Bogen ist, senkrecht in die Luft, um noch einmal im rechten Winkel wie gehabt im Bogen ein Stück parallel zum zweiten geraden Stück in der Waagerechten zu verweilen. Und den gleichen Weg wieder zurück und vorwärts, und zurück und. Es gibt nichts weiter zu sehen. Weiter? Es ist nicht allein auf einmal zu sehen, wie uneben das Parkett ist, auf dem '1975/VI‘ ruht. Es ist auch nicht die Veränderung der Perspektive, der rechten Winkel, der Bögen zu sehen, wenn man durch den Raum geht, der seine festen Dimensionen hat. Es stellt sich die Verblüffung ein, mit welch einfachen Mitteln eine Bewußtseinsveränderung zu bewerkstelligen ist, in dem man wohlproportioniert eine gebogene Stange ruhen läßt, die dort denken läßt, wo sie nicht mehr existent ist. Norbert Kricke ist mit seinen „Verlaufsfiguren“, wie Max Imdahl, Professor für Kunstgeschichte in Bochum, sie genannt hat, der Inbegriff des Mehrwertproduzenten. Nicht, daß dieses Stück nun rein materiell das Tausendfache seines Materialwertes kosten würde, wenn es nicht unverkäuflich wäre. Es ist die immaterielle Erweiterung des Raumgefühls, das je nach Standort beziehungsweise Standpunkt die starren Wände fließen läßt. Man kommt sich selber immer kleiner vor, ohne klein zu werden, und dabei liegt dort nur eine Stange weißen Stahls, dreimal ordentlich gebogen.

Qpferdach

Galerie Nowald, Goethestraße 69, 1-12, Vorderhaus, 1.Etage. Mi-Fr 16-19, Sa 13-16 Uhr, bis zum 11.März