Die Rekruten der Roten Armee in der Ära Gorbatschow

Gespräch mit dem sowjetischen Schriftsteller und Funktionär Juri Poljakew über die Probleme junger Soldaten / Afghanistan-Rückkehrer vermissen Anerkennung für ihren Einsatz in einem umstrittenen Konflikt / Über die „soldatische Ader“, „vorschriftswidrige Beziehungen“ und die Änderungsansätze im Armee-Alltag  ■ I N T E R V I E W

Juri Poljakow (33) zählt heute zu den populärsten jungen Schriftstellern der Sowjetunion. Seine Erzählung Hundert Tage vor dem Befehl greift zum erstenmal öffentlich die Schwierigkeiten und Schikanen auf, denen junge Soldaten in der Roten Armee ausgesetzt sind. Fünf Jahre wurde diese Erzählung von den zuständigen Behörden zurückgehalten, bis sie 1988 erscheinen konnte. Binnen kurzer Zeit war das Werk vergriffen. Poljakow diente selbst zwei Jahre als Soldat in einer Nachrichtentruppe. Mittlerweile ist er Sekretär des Vorstands der Schriftstellerverbandes der Russischen Föderation und Kandidat des ZK des Komsomol, des Jugendverbandes der Sowjetunion.

taz: Begreifen die sowjetischen Jugendlichen ihren Wehrdienst noch als ein Opfer, das für Volk und Vaterland gebracht werden muß?

Juri Poljakow: Die Mehrheit sieht, glaube ich, darin noch einen Sinn. Das hat etwas mit der Mentalität unseres Volkes zu tun, die historisch gewachsen ist. Schon seit den Zeiten des Tartareneinfalls hat sich bei uns ein Bild des Waffenhandwerks herausgebildet, das sich stark von dem europäischen unterscheidet. Dort kämpft die Armee, das Volk aber lebt. Bei uns stellen Volk und Armee eine Einheit dar. Das ist ein Vorzug und Nachteil zugleich. Ein Vorzug, weil Krieg gewonnen werden konnten, die nach allen Regeln der Militärwissenschaft eigentlich hätten verloren gehen müssen. Ein Nachteil, weil die Kämpfe unvorstellbare Verwüstungen unter der Zivilbevölkerung angerichtet haben. Doch im Bewußtsein des Volkes rechtfertigen Freiheit und Unabhängigkeit immer noch diese Opfer. Daher wird die Notwendigkeit, Armeedienst zu leisten, immer noch sehr ernst genommen.

Wie stehen Sie als Schriftsteller, der sich dieses Themas angenommen hat, zu dieser „Wehrhaftigkeit“?

Natürlich stehe ich als Schriftsteller in Opposition zu diesem „Verteidigungsbewußtsein“. Dennoch, um objektiv zu sein, muß ich einräumen: Man geht zwar nicht gerade mit besonderer Begeisterung zur Armee - und zwei Jahre sind ja nicht wenig -, aber doch irgendwie mit einem Gefühl positiver Bereitschaft. Das schließt allerdings nicht aus, daß eine ganze Reihe Jugendlicher ziemlich geringschätzig über die Armee denkt und spricht. Im Ganzen wird die Zeit beim Militär aber noch romantisiert.

Haben die Diskussion um den Krieg in Afghanistan und vor allem das teilweise Eingeständnis seiner Unsinnigkeit und Fehlerhaftigkeit irgendwelche Auswirkungen auf die Moral der jungen Soldaten gezeigt?

Das ist eine außerordentlich komplizierte Frage. Denn die Einschätzung des Afghanistan-Krieges in unserer Gesellschaft ist alles andere als eindeutig. Die einen sehen in ihm einen Fehler, die anderen halten ihn immer noch für einen richtigen Schritt. Daraus resultiert auch eine unterschiedliche Einstellung gegenüber den „Afghanen“, den sowjetischen Soldaten in Afghanistan. Ich bin mit vielen Heimkehrern zusammengekommen und mußte feststellen, wie kompliziert und vertrackt ihre seelische Verfassung war. Viele von ihnen sind schon während der „Stagnationsperiode“ zurückgekehrt. Damals stießen sie, die durch Schweiß und Blut zu festen moralischen Werten gelangt waren, in unserer Realität auf vieles, was auf den Kopf gestellt worden war. Sie hatten ihre Pflicht erfüllt, hatten gefährlichen Dienst verrichtet und erwarteten natürlich eine Anerkennung. Die blieb einfach aus, Verluste und Sterben dort unten wurden glatt verschwiegen. Hier kam es dann auch zu den ersten Konflikten.

Vergünstigungen für Afghanistan-Rückkehrer

Welche Maßnahmen wurden getroffen, um den „Veteranen“ den Wiedereinstieg in die Gesellschaft zu erleichtern?

Nachdem Regierungsbeschlüsse gefaßt worden sind, den Heimkehrern Vergünstigungen zukommen zu lassen, verbessert sich die Situation schon ein wenig. Jeder Fall einer ungerechten Behandlung eines „Afghanen“ gelangt sofort an die Öffentlichkeit. In dieser Frage gibt es auch keine Meinungsverschiedenheiten zwischen Partei, Regierung und Öffentlichkeit. Afghanen haben Vorrang bei der Wohnungszuweisung, der medizinischen Betreuung, der Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel usw.

Wie wird der einzelne Soldat, der ja selten älter als zwanzig Jahre alt war, damit fertig, daß er sich für nichts und wieder nichts hat zum Krüppel schießen lassen und als Dank heute noch um seine moralische Anerkennung kämpfen muß?

Die heutige Situation macht es den Soldaten schwer: Wie soll er sich Klarheit darüber verschaffen, für wen er in Afghanistan ein Auge, einen Arm oder ein Bein verloren hat? Bemerkenswert ist, daß unsere russische Literatur, die bei moralischen Fragen gewöhnlich sehr feinfühlig ist, auch schon die Ereignisse um den „Finnischen Krieg“ nicht wirklich aufgegriffen hat. Bei dessen Beurteilung traten bereits sehr schwammige moralische Kriterien auf, und bei der „afghanischen Variante“ ist es genauso. Wie mir scheint, gibt es einen großen Unterschied in der Bewertung der jungen Männer heute in Afghanistan und der Heimatverteidiger im Großen Vaterländischen Krieg. Erstere werden zwar auch als Helden betrachtet, die Schweres durchzumachen hatten, man glaubt an ihren Mut und bringt ihnen Achtung entgegen, zugleich bemitleidet man sie aber. Die Achtung vor dem Soldaten, dem Sieger über Hitler, und dem „Afghanen“ sind nicht ein und dasselbe. Daher müssen sie sich innerlich zutiefst gekränkt fühlen, wenn man ihnen nicht die gleiche Pietät entgegenbringt wie den Teilnehmern des Zweiten Weltkrieges.

Nur wenige verweigern

Sind Ihnen Initiativen Jugendlicher bekannt, die den Dienst mit der Waffe verweigern und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einfordern?

Im Russischen gibt es den Ausdruck soldatskaja kostotschka, das heißt so viel wie soldatische Ader. Damit meinen wir die Menschen, die sehr diszipliniert, ordentlich und vor allem gewöhnt sind, Befehle strikt zu befolgen. Kurzum, wie geschaffen für ein Leben in der Armee. Diejenigen, die kein Organ dafür haben, werden trotz allem zur Armee gezwungen! So als würde eine Uniform aus jedem einen Soldaten machen. Das ist ein großer Irrtum, den wir aus Stalins Zeiten geerbt haben. Früher oder später wird man auch bei uns daran etwas ändern müssen. Der freiwillige Dienst wäre auf jeden Fall ein Ausweg. Vorläufig suchen solche Jugendlichen noch nach einer ideologischen Begründung ihrer naturgegebenen Unfähigkeit zum Soldatsein: entweder die Religion oder den Pazifismus. Das sind aber bei unserer nationalen Tradition nur sehr wenige.

Worüber beklagen sich die Soldaten am häufigsten?

Am meisten Probleme haben wir mit den „vorschriftswidrigen Beziehungen“ (Amtsmißbrauch der höheren Dienstgrade, Heranziehung von Rekruten für private Dienstleistungen und körperliche Mißhandlungen). Freilich gehen die Meinungen darüber unter den Soldaten auseinander. Manch einer kämpft und läßt sich auf einen Konflikt ein. Andere beugen sich ein Jahr lang, lassen sich erniedrigen, um sich dann im letzten Jahr als Herren gegenüber den Neuzugängen aufzuspielen. Bemerkenswert ist, daß in den Grenztruppen, wo die Soldaten mit Kampfwaffen ausgerüstet sind und zum Gefechtsdienst herangezogen werden, die vorschriftswidrigen Beziehungen auf ein Mindestmaß reduziert sind. Sogar in Afghanistan war, wie Augenzeugen berichten, die „dedowstschina“ - so heißen die Verstöße in der Armeesprache - während der Kampfhandlungen verschwunden. Sobald eine Einheit ins Hinterland verlegt wurde, brach es wieder auf.

Haben sich die Veränderungen in der Sowjetunion bereits auf den soldatischen Alltag ausgewirkt?

Insgesamt wird die Armee demokratischer. Wie sehr sich die Bürokraten in der Armee auch widersetzen mögen, die Entwicklung kann nicht von den Veränderungen in der Gesellschaft abgekoppelt werden. Nach wie vor ist der Befehl des Kommandeurs Gesetz. Doch Kommandeur wie Untergebene haben sich verändert. Das veranlaßt das Kommando, den gerechten Forderungen der Soldaten stattzugeben. Außerdem verbessert sich die Versorgungslage. Gegen Mißbräuche durch Vorgesetzte wird vorgegangen. Soweit ich weiß, soll auch ein bequemeres und moderneres Modell der Uniform entwickelt werden. Ich glaube allerdings, daß es nicht so sehr auf die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen als vielmehr darauf ankommt, alle Probleme an die Öffentlichkeit zu bringen und eine Garantie gesellschaftlicher Kontrolle darüber zu schaffen.

Das Gespräch führte Klaus-Helge Donath