: DIESSEITS DES TODES
■ „Explosion of a memory“ vom Transform-Theater
Mehr als bloße Erinnerung ist Henryk Baranowskis - mit Heiner Müllers Text „Bildbeschreibung“ verschränkte Interpretation der Strindbergschen „Gespenstersonate“. Läßt sie doch die Aktualität Strindbergs, der - die Romantik nicht vergessend - über den Realismus seiner Zeit hinaus zur surrealen Sichtweise fortschritt, erkennbar werden.
Wie ein romantischer Held, der sich zu seinem Märchen verspätet hat, winken dem Studenten Archenholz nach heroischer Tat Reichtum und Liebe. Doch die Spukgesellschaft, die ihn nun umfängt, ist moderner, bürgerlicher Natur. In der Ewigkeit und Leere ihrer Gemeinschaft hat sie den Widerspruch von Leben und Tod aufgehoben, vielmehr den Tod ins Leben befreit: der Herr des Hauses eine Fälschung vom Titel bis zur Statur, die Dame, die die Wahrheit kennt und klaustrophobil sich verbirgt, Diener, die auf mysteriöse Art mit ihrem Herren identisch scheinen. Über allem, durch Schuldschein oder Zauberei herrschend, Direktor Hummel: ein gewiefter Geschäftsmann oder ein Vampir, ein „Menschendieb“ oder ein Mörder?
Näher betrachtet zeigt die Charaktermaske Hummel viel Ähnlichkeit mit dem bekannten Mysterium, genannt das Kapital. Gleich dessen Macht stirbt die Hummels nicht mit der Person, schafft sich Reinkarnation im Netz aus Ohnmacht, zum Krampf gefrorener Angst, das sich die Unterworfenen stets aufs neue spinnen. So findet der Fremde, Archenholz, in der begehrten Adele nur Furcht. Ist es paranoischer Traum oder Wirklichkeit: die Wahl in der das sich selbst bewegende Tote herrscht, die Menschen einander aussaugen läßt? Archenholz bleibt der Schrei nach dem Erlöser.
In seiner Inszenierung hat Henryk Baranowski die bei Strindberg angelegte Auflösung der Charaktere, die nurmehr einer ihnen äußerlichen, gespenstischen Logik zu gehorchen scheinen, aufgegriffen und weitergeführt. Die Darsteller tauschen die Rollen, der siegende Hummel ist bald der besiegte Oberst, der Herr bald der Diener (Bernd Ludwig, Hans Walter Klein).
Sprache wird zum Moment der zwei Sphären, die sichtbar werden: der durch das Alter nur markierten verkommenen Welt und der Jugend, die nur die Chance des Auswegs hat. Wenn Archenholz Adele begegnet, sie dabei sich selbst so fremd wie einander bleiben, wird er von den vormaligen Darstellern der alten Herren verkörpert. Sprache wird auch zur Hohlform derer, die in ihr nichts ausdrücken, oder Adeles, deren seelisches, körperliches Leiden sie die Stimme gegen den Text kehren läßt. Der Text ist Heiner Müllers Beschreibung einer „Landschaft jenseits des Todes“, also der Landschaft des diesseitigen Jenseits vielleicht, diesem Jenseits Strindbergs verwandt.
Man wird das Szenarium des Strindbergschen Stückes wiedererkennen, wenn auch in neue symbolische Bilder übersetzt, so wenn sich die Handelnden zwischen Streifen feinen Netzes finden oder wie in Schaufenstern, den alltäglichen Grabstätten der Träume. Das Stück ist langsam, ruhig gespielt. Das ist mutig und hebt sich wohltuend von der Hektik mancher Bühnen ab, die scheint's das Publikum nicht allzu lange aufhalten zu wollen. Das gibt Raum, Anregung, die verdichtete Gedankenfülle Strindbergs zu erkennen.
Die Inszenierung ist herausragend, da sie eine eigene Vision offenbart, die sich auf den ganzen Gedanken-, Gefühlskomplex des Stückes bezieht. Eine symbolkräftige Bühnenhandlung von eigener Stringenz ersteht, die gleichwohl immer wieder mit der des Stückes in Korrespondenz tritt, sich ihr verbindet. „Explosion of a memory“ ist nicht bloß, wie es heißt, ein „szenischer Kommentar“ zur „Gespenstersonate“, es ist eine Interpretation von Eigenständigkeit, die die Interpretation eines Stückes immer haben sollte.
glagla
Das Transform-Theater zeigt „Explosion of a memory“ heute und am 8. bis 11.2., 20 Uhr, im Hebbel-Theater, Stresemannstr. 29, 1/61.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen