Morsche Unterwelt

■ Rund ein Viertel des öffentlichen Kanalisationsnetzes ist in einem desolaten Zustand / Geld für Sanierung fehlt / Die unterirdische Umweltkatastrophe droht

Im Düsseldorfer Kanalamt schauen die Beamten fern: Ein Monitor zeigt Videobilder, aufgenommen mit einer elektronischen Kamera, die auf Rädern durch ein schmales Kanalrohr fährt. Zu sehen sind gebrochene Rohrverbindungen. Immer wieder muß die Kamera Löcher umfahren. Dann eine Fontäne: Durch einen Spalt in der Kanalwand rauschen Grundwasser und Kanalbrühe zusammen. Wohin das Gebräu fließt, wissen die Beamten nicht. Das Wasserwerk ist etwa drei Kilometer entfernt, aber keiner schlägt Alarm. Die Videobilder scheinen nichts besonderes zu zeigen. Doch wie vom Vorsitzenden des Bauausschusses zu erfahren ist, sind 15 Prozent des 1.400 Kilometer langen Rohrnetzes in einem ähnlich desolaten Zustand.

Jahrzehntelang ließen Kommunalpolitiker die bis zu 145 Jahre alten Kanalisationen ihrer Städte und Gemeinden verrotten. Die Abwässergebühren, die eigentlich zweckgebunden in Sanierungen investiert werden müssen, verwenden die Verantwortlichen lieber oberirdisch für unübersehbare Werke ihres Schaffens wie z.B. Hallenbäder. Nun ist der Knatsch da: Bis zu 125 Millionen Mark seien für Kanalsanierungen fällig, meint der Vorsitzende der IG Bau Steine Erden. Ein Viertel der 250.000 Kilometer langen Kanalrohre des öffentlichen Netzes der Bundesrepulik ist morsch. Dadurch versickern jährlich etwa 100 Millionen Kubikmeter Abwässer im Boden.

Wie stark das Grundwasser verseucht ist, läßt sich mangels Kontrollmöglichkeiten nur ahnen, doch gelten für die Arbeiter, die die größeren Kanalrohre reinigen, Typhus, Gelbsucht und Tuberkulose als anerkannte Berufskrankheiten. Deren Erreger schwimmen in den Abwässern. Und wer in einen Kanal unterhalb eines Wohngebietes steigt, hat noch Stunden später Hautreizungen und Augenbrennen von den aggressiven Abwasserdämpfen.

Die Kommunalpolitiker wissen nicht, wie sie bei leeren Kassen Kanalsanierungen bezahlen sollen. Allein die Sanierung eines Rohres kann leicht 3.000 Mark pro Meter kosten. Düsseldorf geht von 375 Millionen Mark Sanierungsbedarf bis zum Jahr 2000 aus. Der Gesamtetat für die Kanalisation betrug für 1988 aber lediglich sechs Millionen Mark, obwohl die Landeshauptstadt nicht zu den ärmsten Kommunen gehört. Mit diesem Geld, das hauptsächlich für Kanalreinigung ausgegeben wird, läßt sich nicht einmal die Schadenssumme finanzieren. In anderen Städten, z.B. Dortmund, Wuppertal, Hamburg oder Mühlheim, bewegen sich Schadenssumme und Sanierungsbedarf in ähnlichen Größenordnungen.

Doch auf Bundes- und Landeshilfen warten die Kommunen bislang vergeblich. Das Bundesumweltministerium begnügt sich mit Appellen, und die nordrhein-westfälische Landesregierung verpaßte mit ihrem neuen Gewässerschutzprogramm erst im Oktober ihre Chance: Landesmittel zur Kanalsanierung würden solange „zurückgestellt“, bis die Kommunen ihre Schadensregelung abgeschlossen hätten.

Wo sich die öffentliche Hand als handlungsunfähig erweist, haben CDU und FDP einen Standardvorschlag parat, dem die Sozialdemokraten oft genug folgen: Privatisierung. Weil die Privatisierung der Abwasserentsorgung aber Ärger mit Umweltverbänden und Gewerkschaften bringen kann, schlägt vor die CDU einen Zwischenschritt vor: den „Eigenbetrieb“, dessen Einrichtung Rheinland-Pfalz seinen Kommunen bereits gesetzlich vorschreibt. Eigenbetrieb heißt z.B nach der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung, daß ein Stadtparlament beschließt, die Kanalanlagen (geschätzter Wert in Düsseldorf 1,3 Milliarden Mark) einer zu gründenden städtischen Gesellschaft zu übertragen. Diese nimmt, mit den Anlagewerten im Rücken, Kredite auf, die sie später mit den selbst eingezogenen Abwassergebühren der Kunden zurückzahlt. Den größten Widerstand gegen Eigenbetriebe zeigen meistens die Stadtkämmerer, denn sie verlieren dann die Millionen, die sie aus dem Posten Abwassergebühren für andere Dinge als Kanalsanierungen abgezwackt haben (in Düsseldorf ca. 17 Millionen Mark). Die so dem städtischen Haushalt entzogenen Gelder können nur durch einen Trick wiederbesorgt werden, der die Bürger teuer zu stehen kommt: „Der Eigenbetrieb kann zukünftig kräftig die Gebühren erhöhen, Gewinnen machen und diese als Ersatz für die verlorenen Gelder an die Kommunen überweisen.

Während in den Parlamenten heftig über den besten Sanierungsweg gestritten wird, verliert das Baugewerbe langsam die Geduld. Es hofft auf fette Aufträge und ist bereit, den Prozeß ein wenig zu beschleunigen. Wenn Kommunalpolitiker und -beamte der „unterirdischen Umweltkatastrophe“ weiter zuschauen würden, drohten ihnen wegen „wissentlicher Gewässerverunreinigung“ bis zu fünf Jahren Gefängnis, bemerkte kürzlich Herbert Schlun, Vorsitzender der Baugewerblichen Verbände NRW, nicht ganz uneigennützig auf einer Pressekonferenz. Umweltschützer werden sich an diesen ungewohnten Bündnispartner erst noch gewöhnen müssen.

Achim Bauer