Das hat jeder gewußt

■ Bis zum 16.2. läuft im Rathaus Schöneberg die Ausstellung „Aus Nachbarn wurden Juden“

Keine Bilder von Auschwitz. Keine Bilder der totalen Vernichtung. Die Fotos des Grauens, Rampe, Stacheldraht, Gaskammer, Leichenberge - sie fehlen. Die Bilder der Ausstellung „Aus Nachbarn wurden Juden“ zeigen den Weg zum Holocaust, zeigen die Anfänge des Antisemitismus und seinen Alltag, der die Endlösung impliziert. Diese Fotos lassen keine Distanzierung mit der altbekannten Formel „Das habe ich nicht gewußt“ zu, so wie es die Bilder von KZ und Massenmord tun. Sie sind Zeugen des alltäglichen Faschismus. Jeder bemerkte die Verbotsschilder und Berufsverbote, jeder erlebte in der Nachbarschaft Rassenuntersuchungen und jeder sah die Scheiterhaufen, auf denen Bücher verbrannt wurden.

Bis zum 16. Februar dokumentiert die Ausstellung mit Fotos von Abraham Pisarek im Foyer des Rathauses Schöneberg den jüdischen Alltag von 1933 bis 1942. „Sie zeigen ein Leben, das geeignet ist, jenes bis heute dominierende Bild zu korrigieren, das Juden fast immer entweder als tragische Opfer an der Bahnrampe oder im Kaftan oder als geniale Beiträger zur deutschen Kultur vorstellt.“ Im Vorwort des gleichnamigen Buches zur Ausstellung wird abgeschlossen mit dem Klischee der einheitlichen „jüdischen Kultur“, mit den Assoziationen von Käppi und Schläfenlocken, Ostjuden, Bankiers, Fabrikanten, Künstlern und Intellektuellen. Erst der Antisemitismus gibt dem „Juden“ über alle weltanschaulichen, religiösen und regionalen Unterschiede hinweg den einheitlichen Stempel durch die rassistische Abgrenzung zu „Nichtjuden“. Aus Nachbarn wurden Juden.

Die AL wollte die Fotos von Abraham Pisarek, die bisher im Mehringhof zu sehen waren, schon im November zum 50. Jahrestag der Pogromnacht ausstellen. Die historische Aufarbeitung des deutschen Faschismus ist jedoch nicht Sache des Schöneberger Bezirksbürgermeisters. Erst fürchtete er, so formuliert es der bisherige AL-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Wieland, um die „besinnliche Stimmung der Weihnachtskrippe“, die eine derartige Ausstellung ruinieren würde. Dann sah er das „positive Berlin-Gefühl im Wahlkampf“ in Gefahr.

„Es ist eine ganz und gar böse Ironie, daß die Eröffnung nunmehr just einen Tag nach der ursprünglich geplanten Konstituierung der Fraktion der 'Republikaner‘ hier in diesem Hause stattfindet“, erinnerte Wieland bei der Präsentation der Ausstellung am vergangenen Freitag, für die SPD und AL ihre erste Gesprächsrunde unterbrachen, an das „Verzögerungsmanöver des CDU-Bezirksbürgermeisters“.

Wieland nannte die Ausstellung eine erste Antwort auf das Wahlergebnis der „Republikaner“: „Sie trauen sich bloß noch nicht, den Antisemitismus wieder zu predigen. An diese Stelle ist der Türkenhaß getreten. Ihnen spielen sie das 'Lied vom Tod‘. Der rassistische Kern ist der gleiche geblieben.“ Im großen Foyer des Schöneberger Rathauses wirken die Stelltafeln zwischen Marmor, Säulen und Kronleuchtern unscheinbar. Vor der Tatsache von elf Mandaten für die Rechtsradikalen sind sie mehr als „ganz und gar böse Ironie“, sie mahnen zur Gegenwehr.

Abraham Pisarek, Pressefotograf und Jude, erhielt 1933 Berufsverbot. Er begann den Alltag der jüdischen Gemeinde festzuhalten, richtete sein Objektiv auf den vernichtenden Prozeß der Ausgrenzung, der Erniedrigung, Stigmatisierung. Er dokumentierte die Versuche jüdischer Gegenwehr, den Versuch, mit Selbsthilfe der nationalsozialistischen Unterdrückung standzuhalten oder die Ausreise zu schaffen.

Seine Fotos schockieren nicht. Leise, subtil, in dokumentarischem Schwarz-Weiß legen sie Zeugnis ab von der Kontinuität der alltäglichen Judendiskriminierung bis zum Mord. Judenbann. Judenstern. Zyklon B. „Hört auf, aus ihnen ein fremdes Zeichen zu machen. Sie waren nicht nur wie ihr, sie waren ein Teil von euch: wer Menschen tötet, tötet immer seinesgleichen. Jeder, der sie ermordet, tötet sich selbst.“ Erich Fried.

-kati