„So hat eben jeder seinen eigenen Lenin“

■ Das Haus der Sowjetischen Wissenschaft und Kultur (HdSWK) in Ost-Berlin / Der ehemalige Kosmonaut Valeri Bykowski ist seit 1988 Direktor / Zwischen neuem Denken und alter „unverbrüchlicher Freundschaft“: Die Leitung des Kulturhauses erfordert viel Fingerspitzengefühl / Programm ohne revolutionären Impetus, dennoch ungewöhnlich offene Diskussion

„Den zweifachen Helden der Sowjetunion kennt in der DDR wohl jeder“, schrieb die Ost-Berliner 'BZ‘ im Mai vergangenen Jahres anläßlich der Amtseinführung des neuen Direktors des Hauses der Sowjetischen Wissenschaft und Kultur (HdSWK) in der Friedrichstraße in Berlin Mitte Valeri Bykowski. So sicher war sie sich ihrer Sache wohl nicht. Doch ganz unbekannt dürfte der Kosmonaut den DDR-Bürgern tatsächlich nicht sein. Denn er war es, der 1978 dem ersten und einzigen DDRler zu einem kosmischen Erlebnis verhalf. In Sojus-31 umkreiste er mit Sigmund Jähn den Orbit. Und über den wiederum frotzelt der Volksmund angesichts der drängender werdenden Nachfolgerfrage: Er sei der geeignetste Generalsekretär - schließlich wisse er am besten, wie's hinterm Mond aussehe.

Ob Valeri Bykowski darüber schmunzel könnte, sei dahingestellt. Ich glaube es eher nicht. Obwohl kein typisch genauer Apparatschik, hinterläßt er nicht den Eindruck eines Mannes, der nach den Sternen greift. Fester Boden unter den Füßen scheint ihm da lieber zu sein. Doch seine Wirkungsstätte in Ost-Berlin bietet alles andere als das.

Komplizierte Gemengelage

Die bilateralen Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR stecken zur Zeit in einer äußerst komplizierten Gemengelage. Mit Vehemenz versucht die DDR, die sowjetischen Reformen auf ihre wirtschaftlich notwendigen Momente zu reduzieren - bei gleichzeitigem Herausstreichen der eigenen Überlegenheit: Während die DDR sich bereits im Stadium der „intensiv erweiterten Reproduktion“ befindet, sei die SU erst im „Übergang dorthin“. Mit anderen Worten: Will die SU gleichziehen, kommt sie an einem „revolutionären Akt der Veränderung“ nicht vorbei. Für die DDR bedeutet das: kein Handlungsbedarf. Noch gibt sich die SU nachsichtig. Und von Bykowski als Transmissionsriemen der sowjetischen Gegenwartsgesellschaft verlangt die Situation mehr als nur Fingerspitzengefühl: diplomatisches Geschick und Zurückhaltung.

Denn als oberster Repräsentant der „Sowjetischen Gesellschaft für Freundschaft mit der DDR“ hat er in der DDR seinen wichtigsten Ansprechpartner in der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ (DSF). Deren propagandistische Losung „Von der Sowjetunion lernen, heißt Siegen lernen“ - ausgegeben auf ihrem 3. Kongreß 1951 - wird heute wegen ihrer schillernden Assoziationsbreite lieber durch das Gegenteil ersetzt: Den Aufruf der KPD vom Juni '45, mit dem sich kürzlich Propagandachef Kurt Hager vernehmen ließ: „Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den Entwicklungsbedingungen in Deutschland.“

Um den Kurswechsel in Moskau nicht nachvollziehen zu müssen, unternimmt die DDR jedoch nicht nur beachtliche ideologische Winkelzüge. Auch handfeste Maßnahmen sind an der Tagesordnung wie das Verbot des Sputniks oder das Absetzen sowjetischer Filme vom Spielplan. Bei alledem geht es vornehmlich um eins: Ost-Berlin wehrt sich mit aller Kraft gegen den Sog der sowjetischen Vergangenheitsbewältigung, die über kurz oder lang auch die historischen Wurzeln der SED, die KPD, in Mitleidenschaft zöge. Nach 35 Jahren zum ersten Mal wieder, zuletzt nach den Ereignissen des 17. Juni 1953, widmete das ZK der SED ausdrücklich Thesen dem 70. Gründungstag der KPD und nicht, wie sonst üblich, der Novemberrevolution. Zweifelsohne ein politisches Signal, das bewußt an die stalinistische Tradition der Thälmann-Fraktion anknüpft.

Die komplizierte Gemengelage zwischen Moskau und Ost-Berlin mag meine Schwierigkeiten miterklären, einen Interviewtermin mit Bykowski zu bekommen. Vier Monate Wartezeit und zwei kurzfristige Terminverschiebungen sind für die sonst sehr um Publicity bemühten Sowjets ungewöhnlich.

Bibliothek ohne verfängliche Broschüren

Valeri Bykowski nun muß mit diesen Widersprüchlichkeiten und Schwierigkeiten fertig werden und auch all jene Erwartungen erfüllen, die von Besuchern außerhalb der organisierten Betriebsveranstaltungen an die Mitarbeiter des Hauses herangetragen werden. „Uns schreiben täglich Hunderte, die alle fast alles über die Umgestaltung erfahren wollen“, sagt er, als würde er es beinahe bedauern. Dennoch würden alle Briefe so gut es ginge beantwortet. Er selbst tut sich schwer, wenn es um Fragen des beiderseitigen Verhältnisses geht. Der Diktus der „unverbrüchlichen Freundschaft zwischen den Bruderländern“ liegt auch ihm noch in Fleisch und Blut. Am liebsten möchte er sich nur zu den Aufgaben des Hauses äußern und dies mit um so mehr Genauigkeit. Wie er denn zum Verbot der Sputnik stehe“? Auf diese wenig originelle Frage wird er schon gewartet haben und prompt holt er eine Liste aller vom Haus abonnierten Zeitschriften hervor: „Wenn eine davon fehlt, ist das nicht so schlimm.“ Befürchtungen, daß der DDR-Postvertrieb auch andere Zeitungen von der Liste streichen könnte, hegt er nicht. Und in der gut bestückten Bibliothek im sechsten Stock ist tatsächlich alles zugänglich, was sich an Publizistik im Prozeß der Umgestaltung einen Namen gemacht hat.

Von der umstrittenen Illustrierten 'Ogonjok‘ über die Wochenzeitung 'Moskowskije Nowosti‘, die 'Literaturnaja Gazeta‘, 'Nowij Mir‘ bis hin zu Fachzeitschriften wie 'Woprosy filosofii‘. Das meiste allerdings in Russisch. Tritt man aus dem Fahrstuhl, liegt zur Linken die Abteilung „Belletristik, Sprache und Gesellschaftswissenschaften“, zur Rechten der naturwissenschaftlich-technische Bereich. An diesem Nachmittag zumindest scheint der linke Bereich mit etwa 7.000 Bänden zu Politik, Geschichte, Landeskunde und Literatur häufiger frequentiert zu werden. Von Andrang kann aber auch hier keine Rede sein. Doch stellt sich bald heraus, daß die Bibliothek besonders aus einem Grund angelaufen wird: als Asservatenkammer des Nowosti-Verlages, dessen offenherzige Broschüren zu aktuellen Diskussionen in der SU und Nachdrucken wichtiger Gorbatschow-Reden hier kostenlos ausliegen. Momentaner Renner: Gorbatschows UNO -Rede. Auch die meisten anderen Broschüren haben Friedenspolitik oder Fragen der wirtschaftlichen Umgestaltung zum Thema. Die eher „verfänglichen“ Broschüren wie „Das Phänomen Stalin“, die den sowjetischen Historikerstreit dokumentiert, oder der „Bremsmechanismus“, eine Analyse des sozialen Konservatismus der Sowjetgesellschaft, die Gespräche mit dem populärsten Dramatiker des dokumentarischen Theaters, Michail Schatrow, und nicht zuletzt die Beiträge der Gorbatschow-Beraterin und Soziologin Tatjana Sasslawskaja fehlen auch hier. Letztere räumte auf mit jener orthodoxen Illusion, die Sowjetgesellschaft basiere nur auf den Interessen der Arbeiter, Bauern und Intelligenz, die alle nur das gleiche wollten... Wer Interesse hat, besorgt sich diese bei Nowosti im Haus der Presse direkt.

Fragen nach Sputnik-Verbot wird ausgewichen

Mit Witz versucht Bykowski, einer persönlichen Einschätzung des Sputnik-Falles auszuweichen. „Wenn mich Leute bitten, schicken Sie mir doch ein Exemplar, schreib‘ ich denen, ich hab‘ selbst keins“, lacht er und winkt ab mit den Worten, „ich hab keinerlei Einfluß auf die, die das Verbot erlassen haben.“ Es sind die traditionellen Aufgaben eines Kulturinstituts, die ihm besonders am Herzen liegen: Kunst und Fotoausstellungen, Film-, Theater- und Folklorevorführungen. Konzertveranstaltungen. Literaturabende, politische Informationskurse oder Rundtischgespräche über die Zusammenarbeit im RGW (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe) etwa, Aktivitäten, von denen er nicht müde wird zu berichten. Ein Blick in die Programme von November bis Februar verrät auch keinen ausgesprochen revolutionären Impetus, zunächst zumindest. Bücher und angewandte Kunst der Moldauischen und Armenischen SSR sind zu bewundern, ein Festival des Soldatenliedes, ein Eindruck in das „Schöpfertum von Millionen“ vermitteln die sowjetischen Ingenieursgesellschaften, Spezialisten äußern sich zu „Problemen von langsamlöslichen Düngern“ und „neuen Schweißtechnologien mit regulierbaren Parametern des thermischen Zyklus“. Soweit nichts Aufrührerisches, eher verhalten und vorsichtig wie Bykowskis Antworten. Doch dann gibt es da noch ein Kolloquium und Lesungen anläßlich des 60. Geburtstages des kirgisischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow, der nicht müde wird, die Widersprüche des sowjetischen Alltags zu sezieren, und regelmäßige Vorträge zu „aktuellen Fragen der Innen- und Außenpolitik der UdSSR“, Veranstaltungen, in denen zur „Sache“ geredet werden müßte. Große Aufmerksamkeit kommt im Hause natürlich der Sprachvermittlung zu. Ob die Nachfrage an Russischkursen zugenommen hätte?

Eigentlich, so der Direktor, wäre der Andrang immer beachtlich gewesen. Überhaupt sei das Sprachniveau in der DDR ziemlich hoch. Meinem ungläubigen Blick hält er sogleich seine Erfahrungen entgegen: „Auf meinen Vorträgen in der gesamten DDR brauche ich nur selten einen Dolmetscher.“ Später in der Bibliothek treffe ich auf Jan.

Er ist 22 Jahre, stammt aus Königs-Wusterhausen und studiert an der Humboldt-Universität Rechtswissenschaft. Er sitzt über der 'Neue Zeit‘, dem Zentralorgan der KP Kasachstans, der einzigen deutschsprachigen Tageszeitung der Sowjetunion, und liest einen Artikel über die Vorbereitung der Deputiertenwahlen zum Obersten Sowjet, „um zu sehen, was an politisch administrativen Neuerungen eingeführt wird“.

„Vielleicht“, meint er allerdings skeptisch, „kann ich den einen oder anderen Gedanken in meine Semesterarbeit einfließen lassen.“ Jan ist in der Partei - „sonst hätte ich nicht so ein exponiertes Studienfach wählen können“ - und heute zum ersten Mal hier. Nach acht Jahren Schulrussisch und dem obligatorischen Unikurs reichen seine Kenntnisse immer noch nicht aus, um Zeitung zu lesen. So ginge es den meisten. Schlechte Lehrer und geringe Motivation nennt er als Gründe. Heute bedauert er es.

„Ein Schattendasein hat dieses Haus geführt

Obwohl schon über zwei Jahre in Berlin, hat Jan erst kürzlich von der Existenz dieses Hauses gehört: „Ein Schattendasein hat es geführt, keiner wollte seine Freizeit hier verbringen.“ Und obwohl ein ungeheures Bedürfnis nach Informationen aus der SU spürbar sei, hätten bisher nur die wenigsten diese Anlaufstelle entdeckt. Jan erklärt sich das mit dem Fortwirken des alten Mechanismus: „Offizielle SU -Bilder sind immer ideologisch geschönt worden.“ Ein Kommilitone hat ihm davon erzählt. Als ich ihn auf die Veranstaltungen in der Forumreihe am selben Nachmittag hinweise, auf der sowjetische und DDR-Journalisten über die „Sowjetunion in der internationalen Arena“ diskutieren sollen, läßt er seine Vorlesung sausen.

Jan gehört zu jener Generation DRR-Jugendlicher, die ohne Minderwertigkeitskomplexe oder gestanzte Warheiten über die Mängel des eigenen Systems reden können. Globale Kahlschläge gehören nicht zu seinem Repertoire, deutsch-deutscher Sonntagsschmus und Wohlstandsgefälle haben seine Sinne noch nicht verklebt. „Wenn die in der SU nach 70 Jahren von einem Tag auf den anderen so ein riesiges Potential an Kritik und Kreativität freisetzen konnten, ist es bei uns vielleicht auch noch nicht zu spät“, hofft er. Bevormundung und totale Gängelung, Förderung von Apathie, mangelnde Freizügigkeit, die platte ideologische Propaganda, die ihre Entsprechung in dem erbarmungswürdigen Niveau der Gesellschaftswissenschaften findet, und das Handeln vieler Kader wider besseren Wissens aus Angst oder Bequemlichkeit kritisiert auch er. „An der Uni wird in letzter Zeit ziemlich offen geredet, nicht nur unter Studenten...“ Ein zartes Pflänzchen einer neuen politischen Kultur? „Ja, es streift so ein Hauch über das Land...“

Was ist dran am neuen Denken?

Mittlerweile hat sich der kleine Saal im Erdgeschoß mit rund 200 Plätzen fast bis auf den letzten gefüllt. Auf dem Podium sitzen Valeri Solotow von der Presseagentur 'Nowosti‘ und Heinz Boschek, ein freier Journalist - im Dienste des Außenministeriums, wie er sagt. Boschek, mit der Moderation betraut, besticht durch Eleganz und Eloquenz. Ganz ungewöhnlich für das sonst eher gräulich gedämpfte Erscheinungsbild seiner DDR-Berufskollegen. Was denn dran sei am neuen Denken in der SU, will er von seinem Gegenüber wissen? Der sieht in der offenen Verurteilung der politischen Psychiatrie in der SU-Presse und dem Abzug aus Afghanistan bereits hinlängliche Beweise für die Ernsthaftigkeit der Liberalisierungsabsichten. Boschke will aber mehr. Am Kamputschea-Konflikt entwickelt er eine exemplarische Kritik sozialistischer Außenpolitik. Von Besserwisserei ist die Rede, ja von Wunschdenken, Unwissenschaftlichkeit, undialektischem Denken und grundsätzlicher Fehleinschätzung. Offene Worte. Das reicht dem Auditorium aber nicht. Es ist gekommen, um anderes zu hören, will sich mit Schleichwegen nicht zufrieden geben. Unruhe wird spürbar. Boschek weiß, was er zu tun hat, es ist seine zwölfte Veranstaltung in dieser Reihe. Er fängt die Spannung auf, als gäbe es gar keinen Grund für sie, und wendet sich jovial an Soltow: „Sag mal, Valeri, die Perestroika bei Euch, ist das eigentlich immer noch eine Angelegenheit, die hauptsächlich von Intellektuellen getragen wird?“ Spätestens hier dokumentiert sich, daß Bykowskis „diplomatische Linie“ und die übervorsichtige Programmgestaltung nicht aufgehen. Die Diskussionen sind jener Ort, an dem sich die angestauten Interessen Bahn brechen. Zustimmung zu Solotows Kritik an der SU wird zur Unmutsbekundung am eigenen System, die sich bei der Mehrheit in Hüsteln, verhaltenem Lachen oder halblauten Zwischenbemerkungen Luft macht. Solotow spricht von den nächsten zwei bis drei Jahren als den Schicksalsjahren der Perestroika. Der Geräuschpegel im Saal ist gstiegen. Boschek gibt die Runde frei für Fragen. Ein Endvierziger mit intellektuellem Einschlag: „Drei SU-Bilder haben wir mittlerweile. Das erste wurde uns in den schönsten Farben geschildert, das zweite konnten wir uns durch Besuche selbst machen. Das stimmte mit dem ersten nicht überein, und nun das nächste, das wir uns gar nicht mehr ausmalen können, nachdem auch noch der Sputnik verboten worden ist.“ Eher eine erneute Kritik in eine rhetorische Frage verpackt, nennt er den eigentlichen Kern des Problems: „Selbst in Führungspositionen haben wir Schwierigkeiten, den Leuten zu vermitteln, welche Konsequenzen das für die DDR hat.“ Und in der Tat, das Sputnik-Verbot ist überall präsent. Eine Maßnahme, die sich zum ersten Mal nicht gezielt nur gegen „aufrührerische“ und oppositionelle Kräfte richtet, sondern auch den kleineren jovialen Funktionär in den Grundorganisationen bis hinauf zur Bezirksebene hat spüren lassen, was es heißt, entmündigt zu sein. Zum Schluß der Diskussion wollte einer gerne noch eine Garantie: Ob Gorbatschow das gleiche Schicksal blühe wie seinem Vorgänger? Eine Frage, die wohl allen Zuhörern unter den Nägeln brannte. Achselzucken bei den Referenten, doch dann Boschek: „Der liebe Gott, er hat einen guten Kommunisten noch nie verlassen.“ Nachdem sich der Saal beruhigt hat, verhilft er dann leise dem Subjekt im Sozialismus zu seiner Wiedergeburt: „Die Garantie steckt nur in uns.“ Langanhaltender Beifall, einige werden bestimmt wiederkommen.

Draußen im Foyer, eine Art Lichthof, über dem sich sieben Galerien in die Höhe ziehen, versiegt die angeheizte Atmosphäre sofort, als verlangen der helle, kantig gebrochene Marmor dem Besucher Respekt ab. Hier und da ein paar sachte Töne, ein Grinsen, das sich nicht festlegen will. War ich gerade auf einer Pflichtveranstaltung? Allein oder in kleinen Grüppchen verlassen die Besucher auf dem schnellsten Wege das Haus, werden von der Monumentalität der Eingangshalle verschluckt wie Reisegruppen im Petersdom.

Ein Hauch von Mausoleum

Auch hier richtet der Besucher seinen ersten Blick unwillkürlich nach oben. Doch statt des Pantokrators ein grauer verhangener Himmel durch Bogenscheiben. Kein Geringerer als Professor Erhard Gießke, federführender Architekt beim Bau des Palastes der Republik, hat den Entwurf zu diesem Haus mitgeliefert. Kalte Würde durch Großflächigkeit und Verzicht auf Ornamentierung. Nicht abstoßend, aber doch ein Hauch von Mausoleum. In der schummrig gestalteten Bar im ersten Stock verweile ich beim Programm des 1. Moskauer Staatsfernsehens, das hier über Satellit empfangen wird. Außer mir ein paar versprengte Seelen, die meisten Russen, aber keine Diskussionsteilnehmer. Zum Abschied frage ich Bykowski nach der verschwundenen monumentalen Lenin-Statue im Foyer. Hat das etwas zu bedeuten? „Nein, als neuer Direktor möchte ich eine andere.“ Lenin? „Natürlich.“ So hat eben jeder seinen eigenen Lenin. Wie wird er aussehen? „Geheimnis!“ Doch vermutlich wird er diesmal etwas kleiner ausfallen.

Klaus-Helge Donath