Ein Liebhaber des Halbschattens

■ Der Schriftsteller Alfred Andersch wäre am vergangenen Sonntag 75 Jahre alt geworden

Matthias Geis

Andersch, 75, kein Grund zum Feiern. Ein posthumes Jubiläum für einen der umstrittensten, leider nicht meistgelesenen Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur. Andersch hat keinen der großen Preise des bundesdeutschen Literaturbetriebs erhalten; nicht Büchner-, nicht Goethepreisverleiher, auch nicht die Frankfurter Buchhandelsbörsianer haben ihn eines solchen für wert befunden. Immerhin, seit einigen Tagen stehen die Andersch -Bände - Rot auf Schwarz - wieder auf den Schaurampen der Buchläden - nicht wie sonst vereinzelt in den quietschenden Plexiglasrotunden. Dort ist ihr angestammt-bescheidener Platz - ich denke mal, weil Andersch es schon zu Lebzeiten keinem recht machen konnte: seinen linken Freunden nicht, die ihn immer im Verdacht hatten, ein ästhetisierender Bürger zu sein, und den Bürgern nicht, weil ihnen einfach unbegreiflich blieb, warum einer, der so schön schreibt, das alles mit Politik vermischen - verderben - muß.

„Ich habe schon alle möglichen Arbeiten verrichtet, aber Schreiben ist mein Metier. Zum Beispiel habe ich, zusammen mit zwanzig anderen Männern, eine Straßenwalze in einem Konzentrationslager gezogen. Damit ich mein Metier ausüben kann, schreibe ich Texte, von denen ich mir einbilde, sie verhinderten, daß ich eines Tages wieder eine Straßenwalze in einem KZ ziehen muß.“ Auch wenn er - so Andersch weiter „über Bibliophilie oder Poliakoff oder eine Straße in London“ schreibe, ziehe er „eine unsichtbare Perspektive bis zu jener Walze“.

Warum bestimmte Leute, wenn sie Literatur lesen, nicht an deutsche Konzentrationslager erinnert werden wollen, war 45 und ist heute - in Zeiten flotter Gedenkfeiern, rechter Historisierung und neudeutschen Tabubruchs - evident. Was aber störte linke Kritiker an Anderschs Neigung, noch scheinbar Entlegenes im Schatten des nationalsozialistischen Traumas zu zeichnen? In der Tat, zur politischen Instrumentalisierung taugt Anderschs Prosa eher schlecht; ihre Reflexion entfaltet sie jenseits linker Trampelpfade, ihre Wahrheit bleibt gebrochen, ihr Autor - „ein Liebhaber des Halbschattens“.

Anderes kam hinzu, was links wie rechts Befremden wachhielt: Anderschs Emigration in die Schweiz 1958 etwa, die den einen als Rückzug aus der politischen Auseinandersetzung, den anderen als Protest gegen die bundesrepublikanische Restauration erschien; oder sein distanziertes Verhältnis zur Studentenbewegung, das eher von Anderschs Kritik an ihrer Parole vom „Tod der Literatur“ als von Zustimmung zum studentischen Protest bestimmt war. Das irritierte - denn bis zu seiner Emigration gehörte er zu den dezidiertesten Kritikern der bundesdeutschen Nachkriegsentwicklung. Als Herausgeber der Zeitschrift 'Der Ruf‘ hatte er sich für eine demokratisch-sozialistische Erneuerung eingesetzt. Seine Bedeutung als Förderer der Nachkriegsliteratur ist unbestritten. Er war Gründungsmitglied der Gruppe 47 und publizierte als Herausgeber der Buchreihe studio frankfurt und der avantgardistisch-literarischen Zeitschrift 'Texte und Zeichen‘ Arbeiten von Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Arno Schmidt, Wolfgang Hildesheimer. Enttäuschung und Resignation über die unerfüllten Hoffnungen einer sozialistischen Nachkriegsgesellschaft und Rückschläge in der Arbeit - vom Verbot der Zeitschrift 'Der Ruf‘ über die Einstellung von 'Texte und Zeichen‘ bis hin zu den zunehmend restriktiveren Bedingungen seiner Rundfunkarbeit - haben bei Anderschs Emigrationsentschluß wohl eine Rolle gespielt. Er selbst hat, im Interesse der Konzentration am Werk, das Recht auf zeitweilige Distanz zu den aktuellen politischen Auseinandersetzungen offensiv verteidigt. Kommunist, Ästhet

und Deserteur

Doch die Warnung Arno Schmidts ans Lesepublikum der Restaurations- und beginnenden Wirtschaftswunderära blieb gültig: „Den Schock vorweg: Er meint Deutschland.“ Das bezog sich auf Anderschs ersten Roman Sansibar oder der letzte Grund (1957), gilt, in eingeschränkterem Sinn, für Die Rote (1958), erst recht für den Roman Efraim (1967), in dem ein anglisierter Jude 20 Jahre nach der Ermordung seiner Eltern in seine Heimatstadt Berlin zurückkommt; auch für Winterspelt (1974), ein Ardennendorf, wo 1944 ein deutscher Bataillonskommandeur der entfesselten Kriegsmaschinerie einen vergeblichen Akt des Widerstands entgegenzusetzen sucht.

Nicht nur Anderschs literarische Perspektive auf Deutschland bleibt von der Erfahrung des Nationalsozialismus bestimmt; auch seine zentrale Intention, die gesellschaftliche Verantwortung von Literatur zu verteidigen, ohne ihren Anspruch als Kunst aufzugeben, hat biographische Bezüge. Denn was Andersch später in seinem literarischen Selbstverständnis zu verklammern sucht Politik und Kunst -, hat er selbst, als voneinander isolierte, konträre Existenzformen zwischen 1932 und 45 durchlebt: Er war Funktionär in der stalinistischen KP der späten Weimarer Republik und - auf der Flucht vor dem Trauma der KZ-Haft - selbstvergessener Ästhet, dessen Exaltiertheit in seinem autobiographischen Bericht Die Kirschen der Freiheit (1952) beschrieben ist. An diesen biographischen Extremen wird Andersch sich abarbeiten, synthetisieren existentiell, theoretisch, literarisch.

Was ihn treibt? - Die Bitterkeit über eine Politik, die noch angesichts der Katastrophe allein auf die geschichtsmächtige Kraft ihrer Analyse setzte und damit ihre Anhänger auslieferte, denen sie zuvor, mittels einer bornierten, deterministischen Weltanschauung die Freiheit zum Aufstand ausgetrieben hatte. - Zum andern die Beschädigung, die das Individuum erfährt, wenn die Kontemplation über Rimbaud oder die Gemälde der Münchner Pinakothek mit der Verdrängung des Grauens einhergeht. „Der Preis, den ich für die Emigration aus der Geschichte zahlte, war hoch; höher als der, den ich leisten mußte, als ich mit der Kommunistischen Partei in der Geschichte gelebt hatte. Oder zahlt man nicht zu teuer, wenn man den Revolver vergißt, den einem der Brigadeführer Eicke angedroht hat für den Fall, daß man noch einmal nach Dachau käme - wenn man ihn wirklich und vollständig vergißt, um statt dessen im Schmelz der Lasuren Tiepolos die Wiederentdeckung der eigenen, verlorenen Seele zu feiern? Ich brachte das Kunststück fertig. Ich antwortete auf den totalen Staat mit der totalen Introversion.“

Anderschs „unsichtbarer Kurs“ über die Extreme mündet in die Desertion aus der nationalsozialistischen Wehrmacht eine existentialistische Augenblickssynthese.

Für Anderschs literarisch-politisches Selbstverständnis markieren Enttäuschung über eine objektivistisch daherkommende linke Politik - jenseits der Individuen - und sein Erschrecken über die inhumane Selbstvergessenheit des bloß Ästhetischen den Resistenzkern: Er wird nicht ins Lager der „l'art pour l'art“ konvertieren und nicht auf die Seite derjenigen, denen die Bedeutung von Literatur mit ihrer Funktion in der politischen Auseinandersetzung identisch erschien. Sensibilität fürs

alltäglich Fremde

Sie müssen mit Andersch leben; einem, der den Anspruch erhebt, politische Literatur zu machen, Prosa aus gebrochenen Charakteren, abwegig scheinenden Sujets und Konstellationen; der dem Hang zum scheinbar Nebensächlichen nicht abschwört.

Ist das Kunst? Literatur? politisch?: - Die Beschreibung der „Empfindung, die wir von dem Stück rostigen Eisengeländers erhalten, das wir anfassen, auf unserem Hinterhofbalkon stehend und auf die Fensterreihen des Wohnblocks starrend, während wir hören, wie Frau Kirchner im Parterre Geschirr spült“? Anderschs Prosa besteht zu einem Gutteil aus der Beschreibung solcher Empfindungen. Das Befremdliche daran liegt dann auch weniger in dem Umstand begründet, daß einer das Erleben scheinbar belangloser Alltagsfacetten der Mühe einer Beschreibung unterzieht, sondern darin, daß sie unter Anderschs subtil-sezierendem Blick ihre vermeintliche Vertrautheit verlieren. „Warum“, fragt Andersch, „vermittelt die exakte Untersuchung der Haut stärker das Gefühl von etwas Fernem als der goldene Schnitt durch den idealen Körper?“

Freilich bildet solche durch Präzision verfremdete Nähe nicht den Kern seines Erzählens; eher schafft sie die Atmosphäre, in der Andersch seine poetischen Reflexionen und Geschichten entfaltet: eine Flucht aus der privaten Misere, auf der „die Rote“ zum Lockvogel für die Rache eines ehemaligen Kriegsgefangenen an seinem NS-Schergen wird; die gemeinsame Rettung einer Jüdin und einer Barlach-Plastik aus dem nationalsozialistischen Deutschland; die gemeinsame Konspiration eines Marxisten mit einem Ritterkreuzträger.

Beispielhaft für Anderschs Einfühlungsvermögen, das er auch hierin konträr zur Literaturdiskussion der späten 60er Jahre - als wesentliches Moment des Romans verteidigt hat: eine Verhaftungsszene an der Ardennenfront, deren Sequenzen sich durch Winterspelt ziehen, beginnend mit der Festnahme des Kunstgelehrten Schefold, der in konspirativer Absicht die Linien kreuzt, bis zu dessen Erschießung durch den Gefreiten Reidel. Von Anfang an ist klar, daß Schefold am Ende sterben wird; der Spannung, mit der man die Konfrontation Schefold-Reidel quer durch den 600-Seiten -Roman verfolgt, tut das keinen Abbruch; denn was Andersch da entfaltet, ist das Aufeinanderprallen zweier Charaktere, wie sie widersprüchlicher kaum zu denken sind; der versponnene Bürger, der zu ahnen beginnt, daß er an seinem eher aus Langeweile eingegangenen Kurierdienst zugrundegehen wird, und Reidel, der Spürhund, der Prototyp des erniedrigten Unterdrückers, der mit Schefold seine Chance wittert. Die einfühlsame Präzision, mit der Andersch das geradezu konstitutionell angelegte Unverständnis zwischen den beiden ausbuchstabiert, ist unübertroffen. Daß es, trotz der klar verteilten Sympathie des Lesers, Andersch gelingt, die diabolische Boshaftigkeit Reidels so zu brechen, daß sich am Ende so etwas wie widerstrebendes Verständnis für den Schützen einstellt, erscheint paradox. Andersch gelingt in der brutalen Konfrontation ein Vexierbild von Humanität. Traumatisierte Individuen

Anderschs Prosa lebt von ihren Charakteren. Daß diese in oft hochspannende Geschichten verstrickt sind - Die Rote, ein Krimi, Sansibar, eine Flucht auf Messers Schneide, Efraim, die Verschleierung einer Schuld - ist Zugabe. Anderschs Protagonisten sind gestrandete, traumatisierte, beschädigte Individuen; Leute mit Geschichte im privaten und historischen Sinne. Umhergetriebene, Enttäuschte - wie Fabio, Spanienkämpfer, Partisan gegen die Deutschen Besatzer, Geiger an der Fenice-Oper in Venedig: „Später hatte er den Gründen seiner Enttäuschung nachgeforscht und herausgefunden, daß er nicht enttäuscht war, weil er zu den Besiegten gehörte, sondern weil die Revolution, für die er gekämpft hatte, aus einer Idee zur Schimäre verdampfte... In dem toten Raum, den die Ideen hinterließen, hörte man nur noch das Rasseln der Automaten, die anstatt Gedanken die falschen Münzen der Ideologien ausspuckten.“

Anderschs Helden sind politisch denkende, nach dem Verlust der Utopie. Wo sie handeln - auch politisch -, handeln sie als einzelne, retten Kunstwerke, üben Verrat, desertieren; im Zustand angespannter Sensibilität werden sie von der Empfindung, die ein bestimmtes Licht, eine Farbe, der Anblick einer regennassen Straße bei ihnen auslöst, in die Reflexion ihrer historisch aufgeladenen Erfahrungen gelenkt.

In Anderschs Prosa wird das europäische Trauma dieses Jahrhunderts, das Scheitern der organisierten Linken und die Herrschaft des Nationalsozialismus, verhandelt; sie stellt Fragen, die im Medium changierender Stimmungen und poetisch verdichteter Reflexion bearbeitet, nicht beantwortet werden.

Efraim, der in gewisser Weise nichts anderes tut, als der Ermordung seiner Eltern nachzusinnen, weiß zugleich, daß er keine Antwort finden wird: „Es gibt keine Erklärung für Auschwitz... Wer mir Auschwitz erklären möchte, ist mir verdächtig.“ In der Tat scheint Efraims quälender Agnostizismus angemessener als die gängigen Leerformeln der Faschismustheorie.

Das muß Andersch an den politisierten Studenten irritiert haben: das sture Vertrauen in die Erklärungskraft ihrer Theorien, die Aufteilung der Wirklichkeit in Haupt- und Nebenwidersprüche, die Reduktion des Subjekts als „Faktor“ im gesellschaftlichen Prozeß.

Andersch hat sich bei allem künstlerischem Eigensinn und trotz seiner Distanz zu den politischen Tageskämpfen nicht im Poetischen verschanzt, nicht abgedichtet gegen die aktuellen Auseinandersetzungen. Verwiesen sei nur auf die bittere Schärfe mit der er in seinem Gedicht artikel 3 (3) (1976) die Berufsverbotspraxis angriff und damit eine in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellos polarisierte Debatte um Funktion und Grenzen politischer Lyrik in Gang setzte.

Dennoch, die eigentliche politische Dimension des Anderschen Werks besteht weder in solch zornig-plötzlichen Eingriffen in gesellschaftliche Konflikte noch in der Insistenz, mit der er eine saturierte Öffentlichkeit an der Verdrängung des Nationlsozialismus zu hindern suchte; der politische Kern seines Schreibens liegt in der Poetisierung von Individualität - als Residuum des Humanen, als Quelle des Widerstands: „Die letzte und uneinnehmbare Rückzugsbasis im Kampf gegen den anti-menschlichen Zustand unserer Welt besteht im scheinbar privaten, im rücksichtslos Subjektiven, im eigensinnig Sensiblen.“

Alfred Andersch starb in der Nacht vom 20. auf den 21. Februar 1980.