Speerspitze des Postsozialismus

Die sowjetischen Klubs wollen auch keinen Kapitalismus / Die Protestbewegung hat einen eigenen Dachverband / Die Klubs kümmern sich um Rechtsfragen und um ökologische Probleme / Mit dem „Demokratischen Wählerblock“ beteiligen sie sich an dem Wahlkampf für den Kongreß der Volksdeputierten  ■  Von Barbara Kerneck

Vor ziemlich genau einem Jahr, am 30.Januar 1988, fand im Moskauer Hotel „Junost“ eine turbulente Versammlung statt: Die „Föderation sozialistischer öffentlicher Klubs“ (FSOK) wollte erstmals eine Konferenz informeller Gruppen gemeinsam mit dem offiziellen kommunistischen Jugendverband (Komsomol) veranstalten. Die Zusammenkunft sollte den legalen Status der sowjetischen Klubbewegung unterstreichen und die Zusammenarbeit mit den offiziellen Strukturen ermöglichen. Das hätte das Leben der Gruppen in der Provinz erleichtert und ihnen gleichsam einen Schutzbrief verschafft.

Nach dem Sturz des Moskauer Parteisekretärs Boris Jelzin im November 1987 hatte sich jedoch das politische Klima verschärft, in vielen Städten begannen konservative Funktionäre informellen Gruppen ihre Räume wegzunehmen, in der Presse erschienen Artikel gegen einzelne Aktivisten und ganze Gruppen. Man bezeichnete sie als „Schaum auf den Wellen der Perestroika“, als asoziale Elemente, die es auf die Unterminierung des Systems abgesehen hätten und sprach von der unzulässigen „Maßlosigkeit der Demokratie“. Der Leiter des Krasnojarsker „Komitees zur Unterstützung der Perestroika“ wurde aus der Partei ausgeschlossen und verlor seine Arbeit. Auch in Kuibyschwe, Taganrog und Leningrad kam es zu Auseinandersetzungen.

Auf jener denkwürdigen Konferenz im Moskauer Hotel „Junost“ beschränkte sich allerdings die „Hilfe“ der meisten Komsomolfunktionäre auf Einwände gegen die Teilnahme von Nicht-Moskauern. Auch den Leiter der „Folk und Rock Association“, Igor Pankratjew, hielten die Vertreter des Komsomol für zu gefährlich, während sie den Historiker Roj Medwedjew, der im Westen zahlreiche Bücher über den Stalinismus veröffentlicht hat, als Ehrengast ungeschoren ließen.

Forum für Diskussionen

Informelle Vereinigungen hatte es in der Sowjetunion schon immer gegeben, doch 1987 erblickten sie das Licht der Öffentlichkeit. Der sowjetische Soziologe Bestuschwe-Lada verglich sie mit Embryonen, die weit über die übliche Frist der Schwangerschaft hinaus im Mutterleib steckten (taz vom 20.Juni 1988). Wie es Neugeborenen geziemt, waren sie den größten Teil ihres ersten Jahres hindurch mit der eigenen Existenzgründung befaßt. Fast alle arbeiteten Statuten aus, die meisten davon beruhten - und beruhen bis heute - nicht auf formaler Mitgliedschaft.

Etwa zwei Dutzend Moskauer Klubs schlossen sich im Spätsommer 1987 - zweieinhalb Monate vor Jelzins Sturz - zur erwähnten „Föderation sozialistischer Klubs“ (FSOK) zusammen. Darunter waren der Klub „Milosjerdie“ (Barmherzigkeit), dessen Mitglieder durch Arbeitseinsätze für Behinderte und Alte auf den vernachlässigten sozialen Sektor aufmerksam machen; die Gesellschaft „Graschdanskoje Dostoinstwo“ (Zivilcourage), die sich vor allem mit der Rechtssituation der einzelnen Bürger beschäftigt, und die „Demokratitscheskaja Perestroika“ (Demokratische Perestroika), ein Verein, dem vor allem Wissenschaftler angehören und der ein öffentliches Forum für die Diskussion von Fragen gesellschaftlicher und staatlicher Ethik bieten will.

Insgesamt mögen es, wie ein sowjetischer Publizist schätzt, tatsächlich nur etwa 2.000 Leute gewesen sein, die sich hier zusammenfanden, nicht eben überwältigend viel für eine Zwölfmillionen-Stadt. Doch das Publikum, das sie mobilisieren konnten, war und ist wesentlich größer. Allein 600 Teilnehmer füllten einen Saal, als die „Demokratitscheskaja Perestroika“ im Sommer 1988 eine Podiumsdiskussion über die reaktionär-chauvinistische russische Gesellschaft 'Pamjat‘ veranstaltete.

So unterschiedliche Gruppen sich auch in der „Föderation sozialistischer öffentlicher Klubs zusammenfanden: Eines hatten sie gemeinsam: Der Ausdruck „sozialistisch“, mit dem sie sich selbst charakterisierten, entspricht kaum dem Wortgebrauch der westeuropäischen Linken. Das kleine große Wort im Wappen hatte hier eher eine taktische Schutzfunktion gegenüber der Obrigkeit, für die man gesprächsfähig werden wollte, eine Signalfunktion an andere Gruppen: die „postsozialistische“ Gesellschaft, die man anstrebe, solle jedenfalls auch nicht kapitalistisch sein. Die Leningrader kulturpolitische Vereinigung „Epizentrum“ veröffentliche die Grundsatzerklärung „der drei Nein und des einen Ja“, zu der sich - in diversen leicht abweichenden Formulierungen - auch die Moskauer FSOK-Anhänger bekannten:

„- Nein zur Propagierung von Gewalt;

-Nein zu den Ideen rassischer und nationaler Exklusivität und Feindseligkeit gegenüber anderen Völkern;

-Nein zu dem Monopol an Verfügungsgewalt über die Wahrheit zum Schaden des Rechts anderer auf selbständige Suche;

-Ja zum Leben in seiner ganzen Widersprüchlichkeit.“

Zwanzig gewitzte Wissenschaftler, zum Teil aus renommierten soziologischen oder marktwirtschaftlichen Forschungsinstituten, selbst Mitglieder verschiedenster Moskauer Klubs, kamen auf die Idee, den „Klub sozialer Initiativen“ zu gründen. Dies ist keine Dachorganisation, die zum FSOK in Konkurrenz hätte treten können, sondern eine Institution, die anderen Klubs dienen will. Die Dienstleistung besteht in Schulungsprogrammen für Wirtschaftsfragen, Management und das juristische Vorgehen der einzelnen Klubs. Im Gegensatz zur FSOK, die im Sommer letzten Jahres an inneren Widersprüchen zerbrach, existiert der KSI noch immer.

... und Demonstrationen

Menschen aus allen Gesellschaftskreisen, Massen, von denen die Klubbewegung bisher nur hatte träumen können, formierten sich im vergangenen Frühjahr zu einer „Initiative zur Rettung des Bizewo-Waldes“. Bizewo - der letzte größere Wald im Moskauer Stadtgebiet - soll abgeholzt und zum neuen Zoogelände werden. Sonntag für Sonntag trafen sich die Bürger der angrenzenden Bezirke im Wald. Wie fast alle sowjetischen Umweltinitiativen organisierten sie ihre Kampagne ohne Vervielfältigungs- oder Druckmöglichkeiten, gegen den erbitterten Widerstand der Behörden und von der konservativen Presse als „Extremisten“ und „Gruppenegoisten“ beschimpft. Zur größten Bizewo-Walddemonstration im März 1988 erschienen etwa 5.000 Bürger.

Fast gleichzeitig fand in Leningrad die Umweltschutzkonferenz „Baltikum 88“ statt, wo unter anderem die Gründung einer „Grünen-Partei“ diskutiert wurde. Die Entstehung einer einheitlich öko-sozialen Bewegung in der UdSSR erschien hier erstmals als reale Perspektive. Bisher hatten beide Gruppen miteinander konkurriert. Jetzt wurde klar, daß man ohne einander nicht auskommen kann.

Das Leningrader FSOK war es auch, das eine der ersten Demonstrationen gegen die „vorläufigen Regeln über die Durchführung von Kundgebungen und Demonstrationen“ richtete. Paradoxerweise war dies eine der ersten Demonstrationen, die auf der Grundlage dieses Gesetzes offiziell genehmigt wurde. Die im Juli verabschiedeten Sondervollmachten für die Truppen des Innenministeriums gestatteten es, schärfer gegen Demonstranten vorzugehen, Verdächtige bis zu drei Tagen ohne Begründung festzuhalten und auf der Suche nach Rädelsführern Wohnungen zu durchsuchen.

Die Kampagne gegen das Versammlungsgesetz führte schließlich zur ersten großen Niederlage der Klubbewegung. Die zweite Kampagne, die man vorläufig als gescheitert betrachten muß, richtete sich gegen Gorbatschows Änderungsparagraphen zur sowjetischen Verfassung: Einschränkung der Autonomie der einzelnen Unionsrepubliken, ein Mehrstufensystem für die Wahl der Regierung, die Tatsache, daß einigen wenigen Organisationen wie den Gewerkschaften und offiziellen Künstlerverbänden außerhalb der Wahl durch automatische Mandate insgesamt ein Drittel der Sitze im Kongreß der Volksdeputierten zufällt, undurchsichtige Wahlkommissionen - die letztlich über die Zulassung der Kandidaten entscheiden - dies alles rief Bedenken hervor. Die Moskauer Klubs forderten ein Referendum.

Doch der Aufschub, den sie zur Diskussion des Projekts verlangten, wurde nicht gewährt, die Meetings verpufften, es bestand nicht einmal die Möglichkeit, Alternativentwürfe in der Presse zu veröffentlichen. Die Verabschiedung des Verfassungsprojekts zur Monatswende November/Dezember 1988 markierte auch das Ende der FSOK. In einer Gesellschaft, in der es kaum rechtliche Formen für freiwillige Basisinitiativen gibt, in der - trotz des gegenwärtigen Booms der sowjetischen Reformpresse - kaum ein öffentliches Kommunikationsnetz für solche Vereinigungen existiert, hatten die einzelnen Klubs übermenschlich viel Energie verbraucht, um ein gemeinsames Dach zu finden. Als nun die über Jahrzehnte verschleppte Diskussion über ein alternatives Weltbild vorrangig wurde, zogen sich viele Klubmitgleider auf eine Position zurück, wie sie der Soziologe und KSI-Mitbegründer Boris Rakitski formuliert: „Der Pluralismus ist für ein Gepräch sehr gut, für die Arbeit braucht man aber einen Kreis von Gleichgesinnten.“

Indikatoren für Stimmungen

Die Moskauer Klubs existieren weiter, doch die Aktivisten der ersten Stunde sind müde, sie forschen, analysieren ihre Geschichte und verstehen die eigene Tätigkeit nur noch als Beitrag zu einer größeren, umfassenderen sozialen Initiativbewegung. Einige Klubs haben den „demokratischen Wählerblock“ gebildet, um die erweiterten Partizipationsmöglichkeiten des neuen Wahlgesetzes dennoch wahrzunehmen und ihre Ziele auf den Wählerversammlungen zu propagieren.

Spätestens nach den Wahlen zum Kongreß der Volksdeputierten im März, so hoffen die Insider, wenn sich eine neue Verfassungswirklichkeit in der Sowjetunion abzeichnet, wird die Moskauer demokratische Bewegung aus ihrem Winterschlaf aufwachen. Die Bürgerinitiativen werden konstruktive Teilnahme an der politischen Praxis fordern. Auch sind die Perestroika-Befürworter in Partei und Regierung längst auf die informellen Organisationen als Indikatoren angewiesen, um zu testen, wieweit ihr eigenes Programm die gesellschaftliche Wirklichkeit repräsentiert. Dazu Grigorij Pellman, Mitbegründer des KSI: „Die Welt ist in solche Widersprüche verwickelt, daß es unmöglich ist, sie auf Regierungsebene zu lösen.“