Kabul vor dem großen Sturm

■ Die eingeschlossene Hauptstadt nach dem Abzug des letzten sowjetischen Soldaten

Eine Million Flüchtlinge leben in Kabul - ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Unterkunft. Und nachdem am Sonntag Staatschef Nadschibullah die letzten Mannen der Bürgerwehr in den Kampf geschickt hatte, begannen die Mudschaheddin gestern, die Stadt mit Raketen einzudecken (siehe Seite 1). Doch noch herrscht keine Panik unter den Bewohnern - noch ist Kabul nicht wie Saigon im April 1975

Countdown in Kabul - der letzte macht die Tür zu. Seit gestern der Geschäftsträger der französischen Botschaft, Raymond Petit, den Schlüssel im Schloß umdrehte und ins sichere Neu-Delhi abflog, sind die Kabuler endlich allein verlassen von allen westlichen Diplomaten, schon seit Sonntag verlassen auch von den letzten „internationalistischen“ Soldaten. Das letzte Häuflein Fallschirmjäger, das bisher den Flughafen bewachte, ist in Richtung Usbekistan abgezogen.

Während an der italienischen Botschaft in der Bebe March Road ein Schild mit der Aufschrift: „Geschlossen wegen Urlaub“ die vergeblich Wartenden tröstet, gewinnt die Stadt im zeitlichen Niemandsland zwischen zwei Regimen ihr ungewohnt gewordenes alltägliches Gesicht zurück. Die sowjetischen Panzer waren in den letzten Tagen nur selten noch zu sehen gewesen, jetzt sind selbst die Posten, die seit Jahren den Eingang zum Bazar schützten, verschwunden. Auffällig, daß die Volksmilizionäre in ihren schokoladenbraunen Uniformen in den letzten Tagen zahlreicher geworden sind, noch auffälliger, daß es sich meist um ältere Männer handelt.

Es geht zu Ende. Gerüchte sprechen von Hausdurchsuchungen in der Stadt, um die letzten potentiellen „Freiwilligen“ aufzustöbern und von ihrer vaterländischen Pflicht zu überzeugen.

„Gut, daß wenigstens die Journalisten noch in der Stadt sind“, meint einer der Edelstein- und Teppichhändler in der Chicken Street, ehemals Treffpunkt der Katmandu-Pilger. Und dann gibt er noch einen guten Rat mit auf den Weg: „Ausländer sollten keine russischen Tschapka-Mützen mehr tragen - auch wenn der Wind so eisig bleibt wie jetzt.“

Dennoch ist Kabul nicht Saigon. Noch nicht. Die Stadt ist ruhig, der Artillerielärm der Kämpfe in Paghman, westlich der Hauptstadt, dringt nur als Echo herein. Kein Vergleich mit dem hektischen Abzug der GIs, als die letzten Amerikaner vom Dach der US-Botschaft unter Beschuß in den Hubschrauber klettern mußten. In Afghanistan geht alles seinen sozialistischen Gang. Ab und an eine kleine Autobombe, aber noch ist von der angekündigten Sabotage-Infiltration der Mudschaheddin nichts zu merken. Die sitzen in den Bergen rings um die Hauptstadt und warten, daß Nadschibullahs Noch -Macht von selbst in sich zusammenfällt.

Nach neun Jahren Krieg haben sie Zeit, sie brauchen nur zuzusehen, wie die Schlangen vor den Brotgeschäften länger werden, wie der Unmut wächst. Letzte Woche, so wird berichtet, kam es im Zentrum zu einer Straßenschlacht, als sich Militärs an einer Schlange vorbeidrängeln wollten, in der man auf die Benzinration wartete.

„Früher lebten über eine Million Menschen in Kabul. Jetzt sind es doppelt soviele - eine Million Vertriebene, ohne Jobs, ohne Geld, ohne Unterkunft“, sagt Stefan de Mistura vom UNO-Flüchtlingskommissariat. „Wenn nichts geschieht, um diese Schwachen mit Lebensmitteln zu versorgen, wird die Not dramatisch werden.

Im Indira-Ghandi-Kinderkrankenhaus sind die Zimmer mit Betten vollgestellt. Für 250 Kinder ist es ausgestattet, heute liegen hier 350, und doch müssen die meisten Hilfesuchenden abgewiesen werden. „Vor drei Jahren waren 62 Prozent der Kinder unterernährt. Heute werden es 80 Prozent sein“, sagt Doktor Jalalzar. Seine Abteilung ist nicht einmal mehr in der Lage, die Patienten mit Milchpulver, Proteinen und Vitaminen ausreichend zu ernähren - geschweige denn, sie medizinisch, mit Impfstoffen, zu betreuen.

Währenddessen ziehen am Sonntag die letzten Tschapka-Träger der Stadt die Friedensallee hinauf zum Präsidentenpalast: junge Männer, über deren Soldatenmänteln die Kalaschnikows baumeln, Lehrer und Beamte, Frauen mit roten Halstüchern, in traditionellen Gewändern mit Turban oder auch in kurzen Röcken und Jeans. 60.000 Mitglieder soll die kommunistische Partei in Kabul nach offiziellen Angaben noch haben - am Sonntag wurden sie alle bewaffnet. Während bei der Zeremonie die Hymne der Demokratischen Volkspartei („Meine Partei, meine große heroische Partei“) gegen den Düsenlärm der letzten Iljuschin 76 anscheppert, die sich ausgerechnet jetzt in den kalten Himmel schraubt, demonstrieren 5.000 Parteianhänger ihren Optimismus. Zum ersten Mal zeigt Präsident Nadschibullah sich im Kampfanzug: „Wir aus der Partei und der Armee werden Kabul verteidigen. Gott ist auf unserer Seite, das Volk ist mit uns, wir können nicht verlieren“, versichert er den Zuhörern, die frierend vor dem Präsidentenpalast stehen und seine Rede durch das Schwenken von Fahnen und Kalaschnikows skandieren.

Gleich neben dem Präsidentenpalast steht, ganz „feste Burg“, das imposante fünfstöckige Betongebäude der Partei. Hier zerbrechen sich die Parteistrategen seit Tagen den Kopf: Ein neuer Namen soll die Partei für die Afghanen akzeptabler machen... Erst kürzlich ging Nadschibullah in die semiotische Offensive, als er die Parteizeitung von 'Die Wahrheit der Saur-Revolution‘ in 'Die Botschaft‘ umtaufte und der ganzen „Demokratischen Republik Afghanistan“ das die Traditionalisten provozierende Adjektiv aus dem Namen strich. Ob die Bevölkerung der Stadt sich durch neue Namen von Brotschlangen, Flüchtlingsnot und hungernden Kindern ablenken läßt, ist ungewiß. Ebenso unklar ist, ob die Parteichefs noch an die Kraft ihrer eigenen Reden glauben: Vorsichtshalber ließen sie alle Munition aus den ausgeteilten Kalaschnikows entfernen.

A. Smoltczyk/wps/'liberation‘