ABKAPPUNG ALS NATURGESETZ

■ Premiere von Strawinskys Parabeloper „The Rake's Progress“ in der Deutschen Oper

Fabelwesen, verrückte Vögel und leidende Kreaturen verkörpern die Charaktere in dem bewußt total überzogenen Gesellschaftsbild von Jürgen Tamcinas Inszenierung der 1951 in Venedig uraufgeführten Oper, die am Sonntag unter Leitung von Stefan Soltesz Premiere hatte. Die Chancen für einen Erfolg der „Karriere eines Wüstlings“, diese nicht ganz zutreffende Übersetzung des Titels, hat man in der Intendanz nach langem Abwägen gewählt, dürften induktiv betrachtet, nicht allzu gut stehen: die Rezeptionsgeschichte des Werkes ist eine Anhäufung von Mißerfolgen und Absetzungen, was aus den abstrakten Ideen und dem epochalen Übergreifen von Komposition und Libretto und seinen häufig sehr abgehobenen oder auch platten Verwirklichungen zu erklären ist.

Da ist einmal die Grundlage der Konzeption, die gesellschaftskritische Kupferstichfolge von William Hogarth (1697-1764); die diente Wyston Hugh Auden (1907-73) und Chester Kallman (geb. 1921) als Stoff für die Opernhandlung, in der der „Wüstling“, der seine vom autoritär -kleinbürgerlichen Vater geprägten Geliebte auf Anraten einer Satansfigur verläßt und in der Großstadt London, parallel zu seinem wirtschaftlichen Aufstieg, vom Unglück über körperlich-geistigen Verfall bis in den Tod getrieben wird.

Entsprechendes spiegelt die den naiven Neureichen umgebende Gesellschaft wider, die, von religiösem Kitsch, Geldsucht und zunehmender Entfremdung zerfressen, am Ende noch abnormer wirkt als die Belegschaft des Irrenhauses, das diese wie einen Zoo besuchen. „Ich wünschte, ich hätte Geld!“ so lautet der erste Satz der Oper - im schrittweisen Auflösen des Unterschieds zwischen „normal“ und „verrückt“, symbolisiert durch die Bild für Bild in die Bühne zurückversetzte Gesamtbewegung, endet das Werk in der Katastrophe, der einzigen, wenn auch tragischen Lösungsmöglichkeit.

Resignativ ist die Aussage festgelegt: es gibt keine Möglichkeit zum Ausstieg aus dieser Gesellschaft, die Selbstgefälligkeit der Irren bekommt noch sympathischere Züge als die der übrigen Menschen, der vollkommen irrational agierenden Auktionäre, Zoo- oder Irrenhausbesucher. Bis auf die symbolkräftige Kleidung (Anstaltsangehörige weiß, übrige Gesellschaft schwarz) läßt sich kaum noch ein Unterschied zwischen diesen Gruppierungen feststellen. Als Chiffre dafür steht zusätzlich die Kleidung des moribunden Tom, auf dessen barocken Gehrock im Verlauf des Stücks sich immer großräumigere weiße Flächen ausbreiten, bis er schließlich, in der Anstalt gelandet, ebenfalls in weißer Zwangsjacke auftritt. Diese realen Kostüme stehen als reine Ausstattung der Figuren im Gegensatz zu dem größtenteils metaphorischen Bühnenbild. Die insgesamt intelligente Kostümierung stammt von Beate Schwabenhaus, die ihre Ausstattung zum erstenmal in Berlin präsentierte.

Der Regisseur Tamchina, der mit dieser Oper ebenfalls sein Berliner Debüt gab, sieht in dem Werk in erster Linie skurile Kunst, was den entfremdeten Handlungsstoff und die Komposition für ihn gerade interessant macht. Oper ist hier als Gegensatz zum Schauspiel, wegen der Gesamtidee dieser Kunstgattung, fern von Realismus und Naturalismus aufgefaßt; der Inhalt wird fern von sozialkritischen Ansätzen, bzw. darüber hinaus gehend, mit viel Zynismus übersteigert dargeboten. Das Abkippen der Gesellschaft, in Roland Aeschlimanns Bühnenbild durch das räumliche Gefälle der Kulissen dargestellt, ist Naturgesetz, auftretend in der Verführung der Menschen durch finanzielle Wunschträume, für dessen Realisierung diese leidenden Kreaturen jeden Preis zu zahlen bereit sind. Jeder ringt nach größeren, herausragenderen Statussymbolen, man ist selbst bereit, Menschen als Ding zu ersteigern.

Gerade durch diese Überzogenheit der Inszenierung hat Tamchina etwas Treffendes, Anregendes und unheimlich Kritisches geschaffen, wenn es auch durch die Verschleierung vor Plumpheit bewahrt (wenn man von dem McDonald's Hamburger absieht). Jede direkte naturalistisch-sozialkritische Inszenierung müßte in dem Zusammenhang lächerlich wirken, das Tatsächliche, die Ausweglosigkeit der Situation, würde sich weniger deutlich und brutal zeigen.

Bei den Gesangspartien ragten vor allem die vom lyrischen bis dramatischen Timbre eindrucksvolle Eva Johansson (Ann) und Victor von Halem (Trulove) heraus. Das musikalisch sehr anspruchsvolle Werk, es beinhaltet Anlehnungen und Parodien von der frühen Barockoper bis zur surrealen Schaffensphase Strawinskys, wurde unter der feinsinnig durchdachten Leitung Stefan Solteszs vom Orchester, bis auf die fast alle mißlungenen Hornsätze, präzise und in allen Passagen mit charakteristischem Klangkolorit interpretiert. Dies liegt wahrscheinlich nicht zuletzt daran, daß endlich mal auch an Götz Friedrichs Bühne ein interessantes Werk zur Aufführung gelangt, das nicht in das sonst übiche, schnöde Repertoire gehört. Die musikalische Leistung, zusammen mit der außergewöhnlichen, die Oper als emotionales Medium mit Konkretheit fassenden Inszenierung des so vielseitig begabten Komponisten, Schriftstellers und Regisseurs Jürgen Tamchina bilden endlich einen Lichtblick im Berliner Opernspielplan.

Axel Körner