Kinoglas

■ Zum ersten Leningrader Non-Feature-Filmfestival vom 25. bis 31.Januar 1989

Rache für Leipzig? Keinen DDR-Beitrag gab es im offiziellen Programm der Leningrader Filmfestspiele: eine Reaktion auf die Absetzung fünf sowjetischer Filme während der Leipziger Dokumentarfilmwoche im November 1988?

Der Akzent der Filmfestspiele lag auf der Dezentralisierung und der Öffnung im kulturellen Bereich. Kinoglas also. So fand in diesem Jahr die ansonsten in die Moskauer Filmfestspiele integrierte Präsentation nationaler und internationaler Dokumentarfilme erstmals auf einem eigenständigen Festival in Leningrad statt.

Im Wettbewerb Filme aus 22 Ländern, auffällig ist die quantitative Ausgewogenheit: drei Filme aus der UdSSR (Crossroad-Street, Counter-Claim, Railroad), drei Filme aus den USA (Girltalk, No applause - just throw money, Powaqqatsi), ein Film aus Israel (Because of that war), eine Dokumentation der PLO (Last quarter). Aus deutschen Landen wurden das Westberliner Produkt Nachtjäger von Johann Feindt und der vom ZDF gesponsorte Film Der Indianer von Rolf Schübel präsentiert.

Interessanter als der offizielle Wettbewerb waren die Veranstaltungen im Kinohaus des Leningrader Filmklubs PROKK. Hier wurde täglich ein aus Filmen, sogenannten „Underground“ -Videos, Diskussionen zu Schwerpunktthemen sowie Musik- und Theatereinlagen buntgemischtes Programm angeboten. Besondere Aufmerksamkeit galt der Vorstellung sowjetischer Filmproduktionen aus dem vergangenen Jahr.

Zum Beispiel Mikrophon, ein von den ukrainischen Filmstudios im Dezember 1988 fertiggestellter Bericht über die Auswirkungen von Tschernobyl auf die Bevölkerung in der Ukraine: eine ca. 30minütige Schwarz/Weiß-Montage aus Interviews, in denen die Betroffenen die Fehlinformation seitens staatlicher Stellen anprangern. Die Folgen radioaktiver Verseuchung werden anhand mißgebildeter Tiere plastisch dargestellt und unsinnige Hilfsmaßnahmen werden dokumentiert wie zum Beispiel die Umsiedlung eines Dorfes um 50 Meter. Zum Schluß Aufnahmen einer Protestversammlung in Kiew, bei der den Rednern die Mikrophone abgeschaltet werden und die Menge einstimmig mit dem Schrei „Mikrophon“ Öffentlichkeit fordert.

Ein Abend war Filmen zum Thema „Stalinismus“ gewidmet. In New Times von G.Nigashev ging es um das Problem, bei einer Funktionärin Gehör zu finden; um einen stalinistischen Leserbrief in der 'Prawda‘, der bei Erscheinen Besorgnis und Verwirrung auslöste. Man ging davon aus, daß alles, was in der 'Prawda‘ erscheint, die offizielle Meinung widerspiegelt. Es ging um die privilegierte Wohnsituation eines ehemaligen stalinistischen Funktionärs; um den Friedhof, auf dem Molotow begraben liegt und für den man eine besondere Besuchserlaubnis braucht; um technische Hilfsmittel gegen Impotenz und die mangelnde sexuelle Aufklärug in den Schulen, außerdem wurden Straßeninterviews zur Perestroika gezeigt. Durch die breite Streuung der Themen war es für den westlichen, mit den Tagesereignissen in der SU wenig vertrauten Besucher schwer, den inneren Zusammenhang des Films zu verfolgen. Trotzdem ein spannender Film: Die Verbindung zwischen den einzelnen Interviews gewährleistete übrigens ein Radfahrer, der mit Kloschüssel auf den Gepäckträger von einem Gesprächspartner zum anderen fährt.

Ästhetisch interessant die Dokumentation Sweat and Work der Leningrader Filmstudios. Die Leidensgeschichte sowjetischer Eiskunstläufer auf dem Weg zum Ruhm, akustisch untermalt von der Leningrader Rockgruppe Aquarium. Zum Thema „Underground„-Videos sei hier nur ein fünfminütiger Videoclip der Gruppe Bombsch (zu deutsch „Leute, die kein Zuhause haben“) aus Nowosibirsk erwähnt. Unter dem Titel Monster Emotions werden nach - auch in Berliner Off-Off -Szene beliebter - Schockermanier die Zerstückelung eines Frosches und eines Karnickels auf einem Mammut -Operationstisch sadistisch zelebriert.

Den Hauptpreis, den goldenen Zentaur, erhielt eine Produktion der Leningrader Filmstudios, Counter-Claim. Weitere Preisträger: Cross-Road, ein Film des Litauers Imantis Seletskis, der die Bewohner einer Straße zeigt und einen Eindruck vom Leben der litauischen Bevölkerung vermittelt; die sehr konventionelle US-amerikanische Dokumentation No applause - just throw money von Karen Goodmann, sie fand beim Publikum großen Anklang, da, für die SU ungewohnt, New Yorker Straßentheater gezeigt wurde.

Das nächste Internationale Dokumentarfilmfestival in Leningrad steht in zwei Jahren an. Genug Zeit, um die Organisation zu verbessern, damit die Programme auf Englisch verfügbar und die Filme nicht nur für Russischsprechende verständlich sind. Die Leningrader Bevölkerung war zu den Festivalkinos übrigens nicht zugelassen. Nur die Presse, offiziell eingeladene Gäste und Mitarbeiter hatten Zutritt zu dem in ein Kino umfunktionierten Devisenhotel Leningrad. Ob der Ausschluß der sowjetischen Öffentlichkeit absichtlich erfolgte oder aber nur auf die großen organisatorischen Schwierigkeiten dieses ersten größeren kulturellen Ereignisses von internationaler Bedeutung außerhalb Moskaus zurückzuführen ist, war nicht herauszufinden.

Cati Großmann/Beate Behrens/ Susanne Schul